Manhattan Projekt
weil statt der erwarteten Zwanzigtausend nur etwa ein Zehntel erschienen war. Dann, schlimmer noch als das, verteilten die Anführer Schlagstöcke statt Maschinenpistolen. Mary gehörte zu der Frauenmiliz der Bewegung, und irgendwann in der zweiten Nacht der Krawalle hatten sie und Jack buchstäblich Rücken an Rücken gegen die Chicagoer Polizei gekämpft. Das erste Mal, als er in ihre Augen sah, erkannte er, daß sie es genauso sehr genoß wie er. In jener Nacht hatten sie in einem Park übernachtet, ihre Wunden versorgt und davon geträumt, wie die Dinge sein könnten.
Als sie einige Tage später gemeinsam einen Bus entführen wollten, erkannte er zum ersten Mal ihre besondere Begabung, instinktiv Gefahr zu wittern. In dem Augenblick, als er die Stufen hinaufgehen wollte, klammerte sich Mary mit einer Hand an seinen Arm.
»Geh nicht hinein«, befahl sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Jack sah ihr in die Augen, die plötzlich glasig geworden waren, und glaubte, daß mit ihr irgend etwas nicht stimmte. Erst später, nachdem zwei Streifenwagen der Bundespolizei von Illinois den Bus von der Straße gedrängt hatten, zwei Menschen getötet und dreißig verwundet, verstand er, was es mit ihrer Begabung auf sich hatte.
Er hatte nie versucht, sie über diese Sache auszufragen. Und bis zum heutigen Tage war er überzeugt davon, daß alles anders abgelaufen wäre, wenn sie bei dem Überfall auf die Mercantile Bank dabei gewesen wäre. Er hatte es sich mehr als einmal ausgemalt, wie sein Leben in diesem Fall verlaufen wäre.
Tyrell hielt in der Haupthalle des Gebäudes, wo die Yost-Brüder über ein halbes Dutzend tote Polizisten wachten und ihr zulächelten. »Ich befreie dich aus dem Gefängnis, und das ist alles, was du mir zu sagen hast? Kannst du mich nach fünfundzwanzig Jahren nicht freundlicher begrüßen?«
Mary sah um sich und schauderte. »Oh, Gott, Jacky, was hast du getan?«
»Nichts im Vergleich zu dem, was ich vorhabe.«
»Du hast das angerichtet, um mich herauszuholen? Du hast das für mich getan?«
»Die Sache ist die, Baby«, sagte Jack zu ihr, »ich brauche dich, um etwas Bestimmtes zu bekommen.«
16.
Will Thatch schenkte sich noch einen Scotch ein. Seine Hand zitterte so sehr, daß etwas davon auf die Zeitung schwappte, die offen auf seinem Tisch lag. In der unteren Hälfte der Seite, gleich neben einer Werbung für Unterwäsche, sprang ihm die Schlagzeile wieder in die Augen:
Sechs starben bei Gefängnis-Ausbruch
Der Artikel war ein Bericht aus Akron, Ohio. Wie die Ermittlungen ergeben hatten, waren letzte Nacht vier Männer mit einem gestohlenen Auto in eine Polizeistation eingedrungen und hatten alle anwesenden Polizisten getötet, um eine einzige weibliche Gefangene zu befreien, die am darauffolgenden Tag ins Bezirksgefängnis verlegt werden sollte. Beim ersten Lesen hatte Will kaum mehr wahrgenommen als das unscharfe Foto, das aus der zerstörten Überwachungs-Kamera gerettet werden konnte; es zeigte zwei Gestalten, die sich auf eine von Kugeln durchlöcherte Wand zubewegten. Er würde sie überall erkennen, konnte sie förmlich durch das Zeitungspapier riechen.
Es waren die Yost-Brüder.
Thatch hatte ihre Fotos zu den zwölf anderen Mitgliedern der Midnight-Run-Bande an seine Pinnwand gehängt. Jetzt hob er den Blick zu der Wand und überflog die 8 x 10 cm großen Aufnahmen von Jack Tyrell, Lem Trumble und den Yost-Brüdern, dann die von Othell Vance und Mary Raffa, besser bekannt als ›Queen Mary‹.
Dann hatte sich Will den ersten Scotch eingeschenkt, um die Gedanken und Erinnerungen in seinem Kopf zum Stillstand zu bringen. Er trank weiter, hörte aber trotzdem nicht auf zu zittern, auch nicht nachdem er einen dicken Bademantel angezogen hatte.
Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in der Gewißheit gelebt, daß dieser Tag kommen würde. Ein Stück Vergangenheit streckte seine Fänge nach ihm aus und entführte ihn aus der Gegenwart. Hier saß er nun mit seinem Scotch, starrte auf den Artikel, bis seine Augen brannten, und versuchte sich zu erinnern, wo er seine Brille gelassen hatte.
An der Pinnwand hingen neben den Bildern auch Zeitungsartikel, von denen einige über FBI-Agenten berichteten, die Jack Tyrell und seine Bande aufspüren sollten. Einer jener Agenten war ein gutaussehender junger Mann namens William Thatch. Der letzte Artikel in der Reihe enthielt Fotografien vom Tatort des vorerst letzten Terroraktes der Midnight-Run-Bande; eine davon zeigte William
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