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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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mit Gesichtern so alt wie die Diaspora. Ernste junge Künstler, die den Tag noch vor sich hatten, junge Mafiosi mit irgendeinem Verbrechen im Kopf, ein Ehepaar, das einen Hund spazieren führte. Und Anne, die wegen irgendeiner Geschichte in der Times die Lippen schürzte und die Finger um den Tassenhenkel krümmte, während sie das Getränk blind an die Lippen führte, die Lippen, die er gerade erst berührt hatte. Die erste köstliche Zigarette des Tages.
    Und die Geräusche. Seine Schritte im Rhythmus von Anne. Gutmütige Debatten zwischen Gemüsehändler und potenziellem Käufer an den Gemüseständen. »Dann kaufe ich eben etwas weiter unten! Bitte, nur zu!« Ein Sopran beim Einüben einer Arie in einer Wohnung im dritten Stock. Ein Radio am Zeitschriftenkiosk, in dem jemand über Baseballspieler schwadronierte. Rufe von Kindern, die ringolevio spielten. Ein halbes Dutzend Sprachen, ein halbes Hundert Dialekte. Und ihre Stimme, Annes Stimme, die mit ihm über das Neueste sprach, über Politik, Musik, über die Leute, die sie traf, die Gerichte, die sie aßen, wie sie sich liebten. Oder wenn sie versuchte, für den Text eines Songs eine neue Phrasierung zu finden.
    Sweet pushcarts slowly glide by .
    Das Village bedeutete auch Gerüche . Der typische Duft frischgewaschener grüner Bohnen am Gemüsestand. Oder von Pfirsichen. Oder der wundervoll beißende Duft grüner Zwie
beln. Das üppige Aroma einer italienischen Bäckerei. Oder im Sommer der saure Gestank von Müll auf den Bürgersteigen, wenn der Asphalt sich erhitzte. Der wabernde Zigarrenrauch eines alten italienischen Mannes in einem Straßencafé. Gerüche in Läden: das Aroma von Kaffee, feinen Teesorten, von Tabak bei Village Cigars. Der Duft von Annes Hals – war es nicht Vanille gewesen? – an jenem Julinachmittag, als er sich auf dem Bürgersteig der Barrow Street plötzlich zu ihr hinübergebeugt hatte, um sie in den Nacken zu küssen.
    Und der Geschmack vieler Dinge. Italienisches Eis an einem heißen Tag. Oder Spaghetti à la marinara . Dick mit Butter bestrichenes Brot. Starker Espresso, süßer Rotwein. Und die letzte herrliche Zigarette des Nachmittags. In Chinatown frische Dim-sum und gedämpftes Brot.
    And tell me what street compares with Mott Street …
    Und ihr süßer, kräftiger Geschmack, den er später an diesem Julinachmittag auf ihrem von Sonnenschein überfluteten Bett einsog.
    Diese Dinge waren das Village für ihn. Sie schienen jetzt, an diesem grauen, erbarmungslosen Morgen, verschwunden zu sein. Hüte dich, dachte er, vor den Straßen, auf denen du mit einem geliebten Menschen dahinschlenderst, denn sie werden nie wieder wirklich dir gehören.
    Anne war nirgends zu sehen. Weder in den Cafés noch in den Bars. Weder blätterte sie bei Village Cigars in französischen Zeitschriften, noch kaufte sie frisches Brot in der Patisserie. Sie saß weder auf einer Bank am Washington Square, noch machte sie einen Schaufensterbummel bei den Boutiquen der Sullivan Road.
    Nicht da.
    Vielleicht, dachte er, ist sie im Plaza. Vielleicht, dachte er voller Bitterkeit, sucht sie Trost in den Armen von Marta Mar
lund, Schauspielerin, Geliebte und Hure der Firma. Würde Anne nicht schockiert sein, wenn sie erfuhr, dass sie mit der Firma im Bett gelegen hatte? In Martas Armen?
    Und übrigens auch meinen?
    Als er noch bei der Firma war, hatte er es ihr natürlich nicht erzählen können. Und sie hatte anscheinend geglaubt oder zumindest nie in Frage gestellt, was er über seine Tätigkeit bei Scandamerican Import/Export erzählt hatte. Nachdem er die Firma verlassen hatte, hatten seine Agenten alles aufgeräumt und weggewischt. Es schien keinen Sinn zu haben, ihr jetzt von seiner Vergangenheit zu erzählen.
    Das stimmt nicht, dachte er. Du hast immer noch Angst, es ihr zu sagen, so wie sie Angst gehabt hat, dir von ihrer anderen Seite zu erzählen. Und jetzt kehrt unser beider dunkle Vergangenheit in Gestalt Marta Marlunds zurück.
    Die Michael Morrison zum Weinen gebracht hatte. Michael Morrison, der gegen alle Regeln verstoßen hatte, indem er mit einer angeworbenen Gehilfin geschlafen hatte. Anschließend hatte er Impotenz vorgetäuscht, um die Spur seiner Schuld zu verwischen, dieser verlogene Hund.
    Doch das bist du auch, dachte Walter. Und das solltest du ihr sagen. Es vielleicht beiläufig bei einem Drink im Duplex erwähnen. »Liebling, ist die Musik nicht wundervoll? Habe ich dir übrigens schon mal erzählt, dass ich in unseren Jahren in

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