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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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tadelte Dieter. Er genoss die Situation sichtlich. »Hör zu, ehrlich, ich weiß nichts über diese Sache. Ich kann dir nur sagen, dass es sich um eine rein romantische Geschichte handelt. Aber wenn du das Bild herumzeigen willst, es gibt mehrere Lokale …«
    Dieter nannte ihm ein paar Bars und Clubs, worauf sie ein paar Minuten harmlosen Small talk pflegten, bevor Walter aufstand und sich entschuldigte. Er zeigte auf die kostspielige Einrichtung der Wohnung und sagte: »Es scheint dir gut zu gehen, Dieter. Du hast Glück.«
    »Ich leiste nur meinen Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder.«
    »Die New Yorker Sitte hat noch nicht bei dir herumgeschnüffelt?«, fragte Walter. »Wenn sie Erfolg riechen, möchten sie meist auch mal probieren.«
    Dieter durchschnitt die Luft mit einer verächtlichen Handbewegung. »Wegen der hiesigen Polizei mache ich mir keine Sorgen«, sagte er.
    Wahrscheinlich nicht, dachte Walter. Nicht Dieter, der das Konzentrationslager und den rosa Winkel hinter sich hat. Er hatte die Gestapo überlebt, die Stasi und all diese Organisationen des Kalten Krieges mit ihren eigenartigen Abkürzungen, und das alles nur dadurch, dass er die privaten Bedürfnis
se mächtiger Fürsprecher erspürte und bediente. Wahrscheinlich konnte er auch mit der New Yorker Polizei fertig werden.
    Aber wen hast du jetzt gefunden, Dieter?
    »Du bist sehr vorsichtig, nicht wahr?«, fragte Walter, der plötzlich eine unerklärliche Fürsorge für den kleinen Zuhälter empfand. Hat wahrscheinlich was mit alten Zeiten zu tun, vermutete er.
    »Immer«, bestätigte Dieter. »Und du?«
    »Genauso.« Dann fügte er hinzu: »Aber du arbeitest in einem gefährlichen Geschäft.«
    »Willst du damit sagen, dass mir eine Wahl bleibt?«, fragte Dieter. »Warum bist du wirklich gekommen, Walter?«
    »Habe ich dir doch gesagt.«
    »Und ich habe es gehört«, erwiderte Dieter. »Aber ich finde, wenn man an einem Wochenende frühmorgens einen alten Freund weckt und ihn dazu bringt, einen schönen jungen Mann wegzuschicken, schuldet man diesem Freund wenigstens andeutungsweise die Wahrheit.«
    »Kennst du eine Marta Marlund?«
    »Ja, sicher«, sagte Dieter. »Filmschauspielerin.«
    »Mehr?«
    Dieter machte eine Pause, bevor er antwortete.
    »Hure.«
    »Wessen?«
    Dieter zog seine dichten blonden Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. »Bitte, Walter, du solltest es wissen.«
    Walter schüttelte den Kopf.
    »Deine«, sagte Dieter.
    »Ich bin pensioniert«, erwiderte Walter.
    »Dann die deines Nachfolgers.«
    »Dieses groben Kerls.«
    »Ja«, sagte Dieter ungeduldig. »Morrison.«
    Dieter musste überrascht gewesen sein, als Walter lachte.
    »Das amüsiert dich, Walter?«
    »Ich bin eher überrascht.«
    Allerdings ist es eine gute Frage, weshalb ich überrascht sein sollte. Weshalb sollte es mich überraschen, dass die Firma eine Operation gegen Joe Keneally laufen hat?
    Außerdem: Kann mir das nicht egal sein?
    »Nun, pass gut auf dich auf, alter Freund«, sagte Walter.
    »Du auch.«
    Das werde ich, Dieter.
    Oder es zumindest versuchen.
     
    Walter schnappte sich ein Taxi, stieg im Washington Square Park aus und ging eilig zu Annes Wohnung.
    Er läutete, wartete und läutete erneut. Wartete wieder. Dann ließ er den Finger auf dem Knopf und lauschte dem hohlen Glockenklang in der Wohnung.
    Mach schon, mach schon, mach schon. Ich weiß, dass du schläfst, aber bitte komm an die Tür. Bitte.
    Bitte schlaf. Bitte, lieg da drinnen und schlaf.
    Er öffnete die Tür mit einem Dietrich und betrat die Wohnung.
    Ihr Bett war leer.
    Anne war verschwunden.
     
    Er verließ die Wohnung. Er durchstreifte die Straßen des Village, um sie zu suchen. Das Village, wo er an so vielen Samstagen nachmittags mit Anne spazieren gegangen war. Das Village, Berlin-Ersatz und ein falsches Paris, der europäischste Teil dieser amerikanischsten aller amerikanischen Städte.
    Samstagnachmittage oder vielmehr -morgen für eine Sängerin und ihren Liebhaber, herrlich verschlafene postkoitale
Spaziergänge mit Kaffee und Croissants, im Winter zitternd und eilig auf der Suche nach der Wärme eines dunklen alten Cafés, im Sommer, um draußen an einem Tisch zu sitzen, um bei Zigaretten und Zeitung die Leute aus der Gegend vorbeischlendern zu sehen. Geschäftige italienische Frauen auf dem Weg zum und vom Einkaufen, die Arme voll mit frischer Wurst, dicken Tomaten und frischem Brot. Alte Juden mit gemessenem Schritt, in eine Unterhaltung oder eine Diskussion vertieft,

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