Mann Ohne Makel
überragenden sozialen Position, wegen seines Erfolgs und vor allem wegen seiner menschlichen Integrität beneidet und idealisiert. Eigene Defizite in der Ich-Struktur führen zu Verschmelzungswünschen. Holler, der schon für viele gesunde Menschen ein Idealbild und eine Leitfigur darstellt, wurde für den in seiner Ich-Entwicklung schwer gestörten Täter zum Objekt einer projektiven Identität. Irgendeine Handlung oder Äußerung von Holler hat ihn derartig gekränkt und zurückgewiesen, dass archaische Wut freigesetzt wurde. Dieses Umschlagen von Idealisierung in Vernichtungsimpulse ist typisch für Borderline-Persönlichkeiten, die sonst ganz angepasst und unauffällig erscheinen. In Frage kommen also alle Personen, mit denen Holler privat oder beruflich engeren Kontakt hatte und die sich irgendwann plötzlich von ihm zurückgezogen haben. Auch eine weibliche Täterin ist in Betracht zu ziehen, eine ehemalige Geliebte zum Beispiel, die sich möglicherweise schon als seine Ehefrau phantasiert hatte. Die Tötungsarten (Gift und Erschlagen) lassen eine Frau als Täterin ebenso wahrscheinlich erscheinen wie einen Mann. Kriterien für die Ermittlung des Täters sind also: eine persönliche Nähe zu Holler, die der Nährboden für eine pathologische Idealisierung wurde, und ein plötzlicher Kontaktabbruch nach einer Kränkung oder Zurückweisung. Die zeitliche Determinante ist offen, es kann sich sowohl um einen Kontakt aus Jugendjahren als auch um eine Kontaktperson aus Hollers jüngerem sozialen Umfeld handeln.«
Ulrike Kreimeier stöhnte. »Wir haben das alles schon geprüft. Der Holler hatte keine Freundin, und ihm fielen auch keine Freunde ein, die sich plötzlich von ihm abgewandt haben.«
»Woher weißt du, dass der keine Geliebte hatte?«, fragte Taut.
»Was nicht ist, kann man nicht beweisen. Ich habe ihn gefragt, du warst doch dabei, Ossi.«
Ossi nickte.
»Ich habe ihm maximale Diskretion zugesichert, auch wenn das im Fall des Falles nicht geklappt hätte.« Ulrike Kreimeier klang gelangweilt.
»Stell dir vor, er hat gelogen«, sagte Ossi. »Glaubst du denn, der lässt seine Geliebte fröhlich morden, nur weil er verhindern will, dass was rauskommt? Mein Gott, jeden Tag liest man über Ehebruch in der Zeitung. Das kratzt doch kein Schwein mehr. Nein, das ist die falsche Spur. Schick uns den Psychoheini bloß nicht mehr auf den Hals.«
Taut grinste.
»Wir sollten uns noch einmal mit Hollers Konkurrenten beschäftigen. Da gibt es ja ein paar, die wären reicher ohne ihn«, sagte Ossi. Er fühlte sich lustlos. Er ahnte, wie aussichtslos es sein würde.
Taut nickte.
Ulrike Kreimeier sagte: »Mir schwirrt da schon die ganze Zeit ein Verdacht durch den Kopf.«
Die anderen schauten sie erstaunt an. Warum sagst du das erst jetzt? schienen sie zu fragen.
»Man muss ja nicht immer gleich mit allem herausplatzen«, sagte sie. Es klang etwas beleidigt.
Taut winkte ab.
»Der Holler könnte es selbst sein. Mir kommt der viel zu gut vor.«
»Wahnsinn!«, sagte Kamm. Es klang nicht nach Widerspruch.
»Ja, Wahnsinn«, erwiderte Ulrike Kreimeier. »Es wäre nicht das erste Mal. Jeder Mord ist Wahnsinn.« »Du meinst, der bringt seine Frau und zwei seiner Kinder um?«, fragte Ossi.
»Es könnte doch sein«, sagte Ulrike Kreimeier.
Taut blickte in die Runde und sagte: »Lasst Ulrike mal erzählen. Das ist vielleicht die erste vernünftige Idee seit langem.«
»Also, der Holler ist ein Mann ohne Makel, so eine Art Jesus«, sagte Ulrike Kreimeier. »Ich habe noch nie einen Menschen ohne Makel getroffen. Er kennt so ziemlich jeden, der in Hamburg was ist. Er spendet große Summen an Wohltätigkeitseinrichtungen und versucht zu verhindern, dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Es kommt natürlich trotzdem heraus, und er kriegt noch einen Heiligenschein, weil ja die meisten, die was Gutes tun, das zuerst für sich selbst tun. Der Holler gibt sich so, als wäre er nicht von dieser Welt. Da wäre er aber der Erste. Vielleicht verfolgt er seit Jahrzehnten einen Plan. Vielleicht stand ihm seine Frau im Weg. Vielleicht will er die Brut seiner Frau loswerden …«
»Er ist der Vater!«, sagte Kamm.
Taut winkte ab.
»Wirklich? Und hat noch nie ein Vater seine Kinder getötet, weil er glaubte, sie seien nicht seine? Außerdem ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Vater die eigenen Kinder mit der Frau identifiziert. Zumal wenn er als Geschäftsmann selten zu Hause ist.«
Kamm nickte leicht.
»Stellt euch
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