Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
Vom Netzwerk:
ehemalige KP-Leute.«
    »Und später hast du KZ-Häftlinge eingefangen. Was für einen Winkel hatten die Gefangenen?«
    »Rote, glaube ich. Es waren also Politische. Kommunisten oder Sozis. Aber das weiß ich nicht. Einer sah furchtbar aus, wie ein Skelett, dem habe ich manchmal ein Stück von meinem Brot zugesteckt. Das war verboten, aber er sah aus, als wäre er schon verhungert.«
    Die Mutter kam herein. Sie trug eine Kanne Tee mit drei Tassen auf dem Tablett und ein Teller mit Schokoladenkeksen.
    »Wollt ihr nicht aufhören damit?«, fragte sie.
    »Es ändert doch nichts mehr.«
    »Findest du es nicht auch merkwürdig, dass mir Vater erst jetzt erzählt, was er in der Nazizeit getrieben hat?« Es klang schärfer, als Stachelmann es wollte.
    »Du hast nie gefragt«, sagte die Mutter. »Hättest du gefragt, hätte er es dir schon früher erzählt.« Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab. Sie verteilte die Tassen, stellte die Kekse in die Mitte, goss ein und setzte sich aufs Sofa.
    »Hat dir Vati schon erzählt, dass er unsere damaligen Nachbarn gewarnt hat?«
    Der Vater winkte ab.
    »Was war das?«, fragte Stachelmann.
    »Das war kurz vor der Kristallnacht. Vater hatte erfahren, dass seine SA-Kameraden den Nachbarn heimsuchen wollten. Er war Jude. Er hat seinem Nachbarn geraten, es wäre gut, er würde ein paar Tage verreisen. Das hat er dann auch getan. Er war dankbar. Als man ihn in den Osten schickte, hat er uns das da geschenkt.« Sie zeigte auf einen goldenen Bildrahmen. Darin ein Foto von einem frühen Italienurlaub.
    Ungeduldig wartete Stachelmann auf die Wirkung der Schmerztablette. Er trank einen Schluck Tee. »Und wenn wir schon mal dabei sind, woher kennst du den Holler?«
    »Holler war ein hohes Tier bei der Hamburger Gestapo. Ich glaube, er hat auch bei den Deportationen mitgemischt.«
    »Und nach 45, ist ihm da nichts passiert?«
    »Ich habe nie etwas gehört. Wahrscheinlich hatte er vorgesorgt. Genug Persilscheine gesammelt. Vielleicht hat ihn irgendeine Spruchkammer auch belastet. Aber das spielte doch bald keine Rolle mehr. Im Polizeisportverein jedenfalls war er vorne mit dabei und immer gut gelaunt.«
    »Was hatte er im Polizeisportverein zu suchen, er war doch gar nicht mehr Polizist?«
    »Alte Kameraden«, sagte der Vater. »Genau wie ich. Ich ging zurück zur Post und blieb viele Jahre im PSV.«
    »Und Holler junior?«
    »Kenne ich nicht. Aber warum sollte er mit alldem mehr zu tun haben als du?«
    Auf der Heimfahrt versuchte Stachelmann eine Sitzposition zu finden, die ihm weniger Schmerzen bereitete. Die Tablette wirkte kaum. Kurz nach der Abfahrt Reinfeld begann der Stau, Ostseeurlauber und eine lange Baustelle. Er hatte den Stau auf der Hinfahrt gesehen, aber vergessen, dass er auf der Rückfahrt die Autobahn schon in Reinfeld verlassen wollte. Er tippte auf die Stationstasten seines Radios, fand klassische Musik, ein Orgelkonzert aus dem Barock. Er drehte den Zündschlüssel nach links und legte die Hände hinter den Kopf. Er streckte sich, es half nicht. Er trug noch die monotone Stimme seines Vaters im Ohr. Sie klang nicht nach Gleichgültigkeit, sondern nach Selbstaufgabe. Er gehörte zu den unzähligen Menschen seiner Generation, die eingebunden waren in den großen Mord, den man seit einer schlechten amerikanischen Fernsehserie Holocaust nannte. Seltsam, wir nutzen bildlose Begriffe der Opfer, dachte Stachelmann. Es hilft beim Verdrängen. Sie bauen ein Holocaustdenkmal, damit die Amerikaner verstehen, dass die Deutschen was gelernt haben. Schließlich sollen die Amis weiter Mercedes und Volkswagen kaufen. Warum spricht man nicht vom Mord an den Juden? Und war es ein Brandopfer, wie sich Holocaust übersetzt? Ein Opfer? Haben die Juden sich geopfert? Seit Jahren ärgerte sich Stachelmann über die Gedankenlosigkeit oder Verdrängung, die als Akt der Solidarität mit den Opfern verstanden wird. Stachelmann benutzte diesen Begriff nicht.
    Sein Vater hatte mitgemacht beim großen Mord. Das berühmte kleine Rädchen, ohne das kein Mordgetriebe läuft. KZ-Häftlinge bewacht und Flüchtige eingefangen. Er war wie die Lokführer, Teil eines Produktionsprozesses, an dessen Ende Rauch stand.
    Wie hätte er sich verhalten? Hätte er den Mut gehabt, Befehle zu verweigern? Hätte er einen Weg gefunden, sich zu drücken?
    Hinter ihm hupte es. Der Stau kroch ein paar Meter voran, zwischen Stachelmanns Golf und dem alten Ford Taunus vor ihm klaffte eine Lücke. Stachelmann startete den Wagen und

Weitere Kostenlose Bücher