Manöver im Herbst
verhafte Sie als kommisarischer Polizeikommandant des Gebietes! Los, – mitkommen!«
Er wollte Heinrich Emanuel am Rock aus dem Zimmer zerren. Einen Augenblick zögerte Schütze. Dann schlug er zu … dreimal, viermal, immer in das schwankende Gesicht des SS-Führers, bis Harris an der Wand zusammenknickte und auf die Knie fiel.
Schütze nahm dem Wehrlosen die Pistole ab, steckte sie ein und verließ das Haus. Er rannte hinüber zur Schreibstube und ließ sich mit dem Regiment verbinden. Mit fliegendem Atem schilderte er den Vorfall und machte einen Tatbericht gegen sich selbst.
»Seien Sie ganz ruhig«, sagte der Oberst in Eger. »Ich werde es nachprüfen. Und wegen der Sozis … Sie unternehmen nichts. Wenn die SS die Sozis weghaben will, soll sie sie selbst wegschaffen. Wir machen uns daran die Finger nicht schmutzig.«
Schütze rannte zurück in sein Haus. SS-Sturmbannführer Harris war nicht mehr im Zimmer. Aber die Einrichtung hatte er vor seinem Weggang zerschlagen. Die Stühle, den Tisch, den Schrank. Es sah aus, als sei eine Bombe im Zimmer krepiert. »Wie die Vandalen!« sagte Heinrich Emanuel laut. Dann legte er sich ins Bett, voll angezogen, in Stiefeln, die Pistole entsichert neben sich.
Aber niemand kam zurück. Erst gegen Morgen schlief er ein. Er hörte nicht mehr, wie viele schlürfende Schritte über die morgenhelle Dorfstraße von Graslitz tappten, wie Frauenweinen und Kindergreinen von den Hauswänden widerhallten, wie Flüche aufgellten und klatschende Laute, als schlage man mit Peitschen auf nackte Körper.
Am nächsten Tag zog die Truppe weiter. Durch glühende Sonne, durch weite Getreidefelder.
Zehn Kilometer südlich von Graslitz sahen sie auf einer riesigen Wiese eine zusammengeballte Masse Menschen liegen. SS-Männer mit Karabinern und hinter Maschinengewehren liegend, bewachten den Knäuel Leiber. Seitlich von den Liegenden stand eine lange Kolonne Lastwagen, zum Teil noch beladen. Zusammengepreßt wie Rundhölzer standen auf den Plattformen Mann neben Mann, sogar Frauen waren darunter und einige größere Kinder, die man hochgehoben hatte und über die Schultern der Zusammengepferchten hielt, damit sie nicht erstickten. Männer des FS, des Freiwilligen Selbstschutzes, Zivilisten mit Hakenkreuzbinden, die der Sudetendeutschen Partei angehörten und nach dem Abzug der Tschechen und bis zum Eintreffen der deutschen Polizei die Polizeigewalt im ›befreiten Land‹ ausübten, saßen hinter dem Steuer oder hielten Wache vor den Lastwagen. Ein Mann in Zivil – es stellte sich später heraus, daß es ein Gestapo-Beamter aus der Zentrale in Karlsbad war – schrie herum und winkte mit beiden Händen. Von zwei Lastwagen sprangen die Verhafteten herunter und wurden mit Gewehrkolbenhieben zu den bereits Sitzenden auf die Wiese getrieben. Diese Arbeit übernahmen die SS-Männer aus Chemnitz und Annaberg.
Heinrich Emanuel Schütze verließ die Spitze seiner Truppe und ritt auf die Wiese. Hunderte Augen sahen ihm entgegen. Gesichter, gekennzeichnet von Schlägen, reckten sich ihm entgegen. Kam Hilfe? Griff die Wehrmacht ein? Verjagte sie diesen blutigen SS-Spuk? Trieb sie die Männer des ›Freiwilligen Selbstschutz‹, aus dem später die sudetendeutsche SS entstand, davon?
Ein SS-Mann, den Karabiner in der Hand, trat Heinrich Emanuel entgegen.
»Halt!« schrie er. »He! Stehenbleiben! Verboten!«
Schütze sah den Schreier an, wie man einen krähenden Hahn betrachtet, ritt dann weiter und näherte sich den liegenden und sitzenden Menschen. Auf der Straße stand seine Truppe, eine graugrüne, entschlossene Masse Macht.
Schütze sah sich um. Männer allen Alters lagen da. Jungen, der Schule kaum entwachsenen, und Greise, die gestützt werden mußten. Einige Frauen gingen durch die Reihen und verteilten aus einem Eimer Wasser. Deckel von Kochgeschirren klapperten. Sogar eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm sah Heinrich Emanuel – sie saß auf der Wiese und weinte vor sich hin. Ein junger Mann kniete neben ihr und versuchte, sie durch Streicheln über das blonde Haar zu trösten.
In Schütze schoß die Empörung hoch. Sie durchschüttelte ihn so, daß er sich kaum im Sattel halten konnte. Eine Hitzewelle, die ihm fast den Atem abdrückte, überspülte ihn. Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte zu einer Gruppe von SS-Führern, die in einem kleinen Kreis neben den Lastwagen standen, die gerade ausgeladen wurden.
Als Schütze näherkam, sah er, daß einer der SS-Führer
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