Manöver im Herbst
eine Pistole in der Hand hielt und ihm entgegenstarrte. Schütze blickte noch einmal zurück. Seine Kompanie stand am Straßenrand. Der junge Leutnant des 1. Zuges hatte das Kommando übernommen. Er hatte ausschwärmen lassen. 150 Soldaten standen mit den Gewehren in den Händen und warteten.
»Der Herr Hauptmann!« schrie SS-Sturmbannführer Harris höhnisch, als Schütze das Pferd vor ihm anhielt. »Sollen wir eine Ecke des vierten Lastwagens für Sie reservieren?«
Schütze blickte über die Hunderte von Köpfen auf der Wiese, auf die junge Frau mit dem Kind, auf ein Mädchen, das gerade vom Wagen sprang und dann zurück in die verkniffenen Gesichter der SS-Führer.
»Meine Kompanie hat durchgeladen!« sagte er laut.
»Sie drohen uns, Sie Offiziersschwein?« brüllte Harris. »Wir haben auch durchgeladen! Und wir werden Ihnen noch klarmachen, wer der Herr in Deutschland ist! Ich habe mir Ihren Namen genau gemerkt! Die Meldung an den Reichsführer ist bereits unterwegs! Hauen Sie ab, Sie Idiot!«
»Sie wollen diese Menschen da deportieren?« fragte Schütze. Seine Stimme war belegt.
»Das geht Sie einen Dreck an!«
»Die Jungen und Greise. Die Frauen –«
»Hauen Sie ab, Mann!«
»Sie wollen diese Menschen, nur weil sie Sozialdemokraten oder Kommunisten sind –«
»Menschen?« schrie Harris und lachte. »Nur Sozis? Haben Sie einen Wurm im Hirn, Mann? Seit wann sind Kommunisten Menschen?«
»Sie haben nichts getan! Ihre politische Einstellung …«
»Pestbeulen sind es am Körper des Volkes! Sie haben wohl noch nie Goebbels gehört, was? Noch nie das SCHWARZE KORPS gelesen? Der ›Völkische Beobachter‹ ist für Sie ein Sterngucker, was? Ich will Ihnen zeigen, was diese Sauhunde wert sind!«
Harris sah sich um. Er bemerkte das junge Mädchen, das gerade vom Wagen gesprungen war, seinen Rock glattstrich und hinüber zur Wiese laufen wollte. Mit zwei langen Schritten war er bei ihm, riß es an den Haaren zum Kreis der SS-Führer, griff in die Bluse und zerfetzte sie. Mit nacktem Oberkörper, mit kleinen, zitternden Brüsten stand das Mädchen vor Schütze und sah ihn aus großen, angstvollen, bettelnden Augen an. Das Grauen der vergangenen Stunden hatte das schmale Gesicht um Jahre älter gemacht.
»Schön, was?« brüllte Harris. Die anderen SS-Führer lachten. »Ein Körperchen, Herr Hauptmann! Knusprig wie ein frisches Brötchen! Aber wozu nutze? Fürs Bett vielleicht. Aber das wäre Verrat am Volk.« Er packte das Mädchen wieder an den Haaren und schüttelte dessen Kopf. »Was ist dein Vater?« brüllte er.
»Kommunist!« schrie das Mädchen hell.
»Seit wann?«
»Seit 1924!«
»Und was bist du?«
»Eine Russenhure!« jaulte das Mädchen. Harris drehte ihre Haare um seine Hand.
»Na also! Die Wahrheit ist immer schön!« Er gab dem Mädchen einen Stoß, es fiel auf die Straße, rollte einen Meter zur Seite und blieb am Wiesenrand liegen. Schluchzen durchschüttelte den schmalen, weißen Körper.
Schütze starrte auf das Mädchen. Es lag mit dem Gesicht nach unten auf der Erde, die Arme schützend um den Kopf gedrückt. Ihr nackter Rücken zuckte. Den Mund preßte sie in die Grasbüschel, damit man ihr Weinen nicht hörte.
Plötzlich empfand Heinrich Emanuel die Ohnmacht, hier einzugreifen. Was konnte er tun? Was widersprach seinen Befehlen? Alles widersprach ihnen, was er auch tun würde. Zum Zusehen allein war er verurteilt. Diese Erkenntnis war so grauenhaft, daß er weiß im Gesicht wurde.
»Gott wird Sie einmal dafür strafen«, sagte er heiser. Die SS-Führer brüllten wie auf Kommando laut lachend los. Sie bogen sich vor Lachen. Harris hieb dem Pferd Schützes gegen den Hals.
»Der alte, gute, liebe Gott!« schrie er. Sein Gesicht war verzerrt. »Wenn er da ist, mag er sich bei mir melden! Mit Stahlhelm und Koppel!«
Ohne ein weiteres Wort, aber auch ohne Behinderung ritt Heinrich Emanuel Schütze zurück zu seiner am Straßenrand wartenden Kompanie.
»Kompanie marsch!« schrie Schütze. Seine Stimme überschlug sich. »Und die Augen geradeaus!«
Die Augen geradeaus … war das noch möglich? Konnte man noch vorbeisehen?
Er ritt vor seiner Truppe her, mit gesenktem Kopf, als sei er mitschuldig geworden.
Nach zwei Stunden machten sie Rast. Kurz, bevor sie wieder aufbrachen, hörten sie weit entfernt knatternden Motorenlärm. Lastwagen fuhren in langer Reihe zur ehemaligen Grenze. Der junge Leutnant sah seinen Hauptmann aus flackernden Augen an.
»Ja –«, sagte Schütze. Er
Weitere Kostenlose Bücher