Manöver im Herbst
Sarg mit dem toten Marschall langsam auf einer Lafette in den riesigen Innenhof des Tannenberg-Denkmals gefahren. Ihm folgten die im Sonnenlicht blitzenden und wehenden Fahnen der alten deutschen Regimenter.
Hauptmann Schütze stand ganz vorne in der ersten Reihe. Der Anblick der alten Fahnen trieb ihm die Tränen in die Augen. Ihre zerfetzten Tücher zeugten von den Schlachten, denen sie vorangetragen wurden. Wie war es 1870 bei Marsla-Tour, dachte Heinrich Emanuel schaudernd. Als drei Fahnenträger unter den Kugeln und Schrapnellen fielen, riß einer die Fahne vom Stock und wickelte sie sich um den Leib und stürmte mit ihr weiter.
Dann sah Hauptmann Schütze Hitler. Er ging hinter den Fahnen, umgeben von allen Generalen. Auch General Müller war dabei.
Zum erstenmal seit dem Prozeß in Leipzig sah Heinrich Emanuel aus der Nähe Hitler wieder. Ganz nahe war er ihm, nur zwei Meter entfernt. Hitler mußte an ihm vorbei, wenn er den Turm betrat, in den man den Sarg Hindenburgs trug.
Hitler sah Schütze an. Groß, mit starren, kalten Augen. Heinrich Emanuel stockte der Herzschlag. Er stand schwitzend, kerzengerade, wie angewurzelt. Der Stahlhelm drückte, sein silbernes Koppel funkelte in der Sonne. Jetzt … jetzt … dachte er …
Hitler wandte den Kopf geradeaus und ging weiter. Vor dem Eingang des Turmes nahm er seine braune Mütze ab und verzog das Gesicht zu einer Trauermiene.
Vor dem Ehrenmal donnerten noch immer die Geschütze den Salut. Für wen schießen sie, dachte Schütze plötzlich. Für den toten Hindenburg oder für diesen Hitler …?
Dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Dem Führer und Reichskanzler. Dem Mann, der in Wien und München in einem Obdachlosenasyl wohnte und sich bei der Heilsarmee für einen Teller Suppe anstellte …
Nach der Parade hatte Hauptmann Schütze zwei Tage Urlaub.
Er fuhr nach Goldap. Er ging noch einmal auf den Spuren der Vergangenheit sein Leben als junger kaiserlicher Leutnant ab. Er erkannte alles wieder … aber doch war alles anders. Nüchterner, fremder, entzaubert fast.
Vorzeitig fuhr er wieder zurück nach Berlin. Er flüchtete vor der Vergangenheit, weil sie Vergleiche zur Gegenwart heraufbeschwor. Gedanken, die er nicht wahrhaben wollte.
Was kann ich denn tun, dachte Heinrich Emanuel, als er aus dem ratternden Zug über die Pferdekoppeln und die riesigen Kartoffelfelder starrte. – Ich bin doch nur ein kleiner Hauptmann. Ich habe nur zu gehorchen. Ich tue ja nichts anderes, als was die Generale auch tun. Und sie müssen es ja wissen.
*
Es war, als wäre der Tod Hindenburgs das Signal gewesen, aus der Ruhe auszubrechen und der Welt zu zeigen, was es heißt, ein nationalsozialistischer Staat zu sein. Es gab keine Ruhe mehr in Deutschland … sechzig Millionen wurden in einen hektischen Taumel von Ereignissen, Taten und Auswirkungen gerissen.
Die allgemeine Wehrpflicht wurde eingeführt.
Die entmilitarisierte Zone am Rhein wurde besetzt. Hitler gab eine Erklärung ab, die die ganze Welt aufhorchen ließ: Volle Souveränität der deutschen Ströme, der Reichsbahn und Reichsbank. Über die Rheinbrücken zogen die Regimenter der Wehrmacht auf das andere Ufer. In Köln, in Koblenz, in Neuss, den ganzen Strom hinab schrien sich die Menschen die Kehlen heiser vor Begeisterung.
Auch Hauptmann Schütze überfiel eine ungeheure enthusiastische Stimmung. Er wurde zur Truppe zurückversetzt und bekam wieder eine Kompanie. Er vereidigte neue Rekruten, die ersten Jahrgänge der neuen Wehrpflicht und rief ihnen zu:
»Erkennt die neue Zeit, Kameraden! Was wir heute erleben, ist in der deutschen Geschichte ohne Beispiel! Ein Volk, das völlig am Boden lag, erhebt sich und wird größer und mächtiger werden als je zuvor. Unsere Zukunft liegt in unseren Händen! Und was halten wir in der Hand? Die Waffe. Sie wird zum Symbol des neuen Deutschlands werden!«
1937 annullierte Hitler den Versailler Kriegsschuldparagraphen. Schütze war in Flammen.
»Dieser Hitler!« rief er begeistert und entkorkte zu Hause eine Flasche Wein. »Wer hätte das gedacht. Was uns allen wie ein Felsbrocken auf der Seele liegt, unsere Alleinschuld am Kriege, das schiebt dieser Hitler mit einem Federstrich zur Seite. Und die ehemaligen Sieger erkennen es an. Ein Druck ist von uns allen genommen.«
»Du warst nie schuld am Kriege«, sagte Amelia. »Aber du wirst schuld sein an dem, was weiter geschieht.«
»Hat der Onkel Eberhard wieder geschrieben?« Schütze sah seine Frau mit saurem Gesicht
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