Manöver im Herbst
den Vater böse an, strich sich mit den Händen durch ihre blonden Haare, die zu einer sogenannten ›Olympiarolle‹ gedreht waren. »Mir genügt's schon, daß wir die dämlichen Luftschutzübungen machen müssen. Gasmaske auf, Gasmaske ab. Feuerpatsche nehmt auf! Als ob es nichts Wichtigeres gäbe!«
Sie riß ihre Schultasche von einem leeren Stuhl, drängte sich an Heinrich Emanuel vorbei und ging hinaus. Auch Giselher-Wolfram folgte ihr schnell. Schütze blieb steif am Fenster stehen. Er sah, wie seine Kinder über die Straße eilten, eifrig diskutierend, über ihn, den Vater sprechend.
»Deine Erziehung, Amelia«, sagte er bitter, als er sie aus den Augen verloren hatte.
»Ich habe sie immer gelehrt, im Menschen den Sinn des Lebens zu sehen. Was jetzt hier geschieht … hat das noch einen Sinn?«
»Großdeutschland!«
»Dummheit! Machtrausch! Größenwahn eines Landstreichers! Phantasien eines Pennbruders!«
»Amelia! Ich kenne dich nicht wieder.« Hauptmann Schütze war rot geworden. Wie seine Frau, die Frau eines Hauptmanns, über den Führer und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht sprach, war nicht mehr duldungsfähig. »Ich möchte dir anempfehlen, dich um die Küche und den Haushalt zu kümmern. Von Politik –«
»Ich weiß. Ich weiß. Das gleiche hast du 1914 gesagt. 1918 war's nicht anders … und dann ging es weiter, zwanzig Jahre lang … immer das gleiche: Das verstehst du nicht. Nur ihr Männer versteht etwas davon. Wir Frauen sind Gebärmaschinen, die euch den militärischen Nachwuchs liefern. Und während der eine Krieg beendet ist, sitzt ihr schon wieder herum und macht die Aufmarschpläne für den nächsten Krieg. Ihr seid wie die kleinen Jungen, die ihre Eisenbahn reparieren, um sie immer wieder entgleisen zu lassen. Und wenn sie ganz kaputt ist und gar nicht mehr fährt, dann setzt ihr euch hin und plärrt: Wir sind nicht schuld. Die Weichen standen nur immer falsch.«
Heinrich Emanuel Schütze atmete tief, zornig. Er wollte etwas entgegnen, aber dann sah er die Augen Amelias. Funkelnd, gar nicht mehr sanft und geduldig.
»Gut«, sagte er gepreßt. »Bleib du bei deiner Meinung. Gott sei Dank ist sie isoliert. Die Weltgeschichte wird über Weiberphilosophie hinweggehen.«
In der Kaserne erwartete ihn eine gedämpfte Aufregung. Für 11 Uhr war eine Offiziersbesprechung angesetzt. Die Kompanien zogen hinaus ins Gelände. Bei der Ersatzkompanie wurden die Rekruten gedrillt. Sie jagten über den Kasernenhof. Ein Feldwebel stand mitten auf ihm und brüllte in Abständen.
»An den Horizont – marsch – marsch! Halt! Kehrt! An den Horizont – marsch – marsch –«
Das ging so eine ganze Weile. So macht man Muttersöhnchen hart, und außerdem – wer außer Atem ist, gibt keine Widerworte mehr.
Um elf Uhr waren die Offiziere beim Kommandeur versammelt. Eigentlich wußte man, worum es ging, aber niemand wagte es, laut auszusprechen.
»Meine Herren.« Der Kommandeur nahm aus einer Mappe einen dicken Umschlag. Er war versiegelt. »Wir rücken morgen aus … zu einer Übung an die polnische Grenze. Ich habe den Befehl, den Umschlag zu erbrechen, der mir vor zwei Tagen von der Division zugeschickt wurde.« Er riß den Umschlag auf. Eine zusammengefaltete Generalstabskarte und einige Schriftstücke fielen auf den Tisch. Die Offiziere verstanden. Sie standen steif.
»Morgen früh um sieben Uhr Ausgabe der scharfen Munition. Die 1. Kompanie rückt feldmarschmäßig um 9 Uhr ab. Die 2. und 3. und 4. Kompanie folgen in Abständen von einer halben Stunde. Sieben Kilometer ostwärts vereinigen wir uns mit dem 2. Bataillon. Die weiteren Befehle gehen uns dann zu.«
Der Kommandeur blickte auf. Über sein Gesicht zuckte es nervös.
»Es ist soweit, meine Herren. Verlieren wir keine Worte mehr. Der Sieg wird unser sein! Großdeutschland und unserem Führer – Heil!«
Heinrich Emanuel eilte sofort nach der Besprechung nach Hause. Er traf Amelia an, wie sie Obst einkochte.
»Die geheime Mobilmachung«, sagte er atemlos. »Soeben ist sie durch …«
Amelia ließ das Glas fallen, das sie gerade in der Hand hielt. Die Glasscherben spritzen durch die Küche.
»Das ist der Krieg –«
»Natürlich. Morgen um sieben Uhr –«
»Du –?«
»Wir marschieren zur polnischen Grenze.«
»Ohne Kriegserklärung? Alles ist doch so friedlich. Es ist doch nichts geschehen, was einen Krieg rechtfertigt. Und du … du …« Ihre Stimme wurde ganz klein. »Warum mußt du denn wieder raus … Waren vier Jahre
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