Manöver im Herbst
Kapitulation! Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen!«
Hauptmann Schütze hörte diese Worte jenseits der polnischen Grenze aus seinem Wehrmachtsempfänger. Er rastete mit seiner Kompagnie in einem Kornfeld. Über ihn hinweg zogen die Stukas in immer neuen Wellen gegen Osten. In der Ferne krachte es schauerlich. Brände und schwarze Rauchwolken verdunkelten den Horizont.
Die ersten Verwundeten waren bereits auf dem Rückweg nach Deutschland. Ein Toter lag an der Grenze … er fiel durch einen Gewehrschuß zehn Minuten nach Überschreiten der Zollschranken.
Um 10 Uhr 30 ordnet der englische König Georg VI. die Mobilmachung Großbritanniens an. Frankreich folgt. Die Bundestreue zu dem überfallenen Polen wird voll wirksam. Heinrich Emanuel Schütze saß mit einigen Offizieren um den Wehrmachtsempfänger. Ununterbrochen tönten die Meldungen aus dem schnarrenden Lautsprecher, dazwischen die ersten Sondermeldungen, die ersten Kampfhandlungen, dem fast widerstandslosen Vormarsch der deutschen Divisionen. Die furchtbare Waffe der Stukas, ihr Heulen und Niederstürzen lähmte die polnischen Soldaten. Wo die blitzenden Vögel am Himmel erschienen, breitete sich auf der Erde Entsetzen und Panik aus. Eine neue Waffe zermürbte den Widerstandswillen. Man hatte noch kein Mittel dagegen. Die Kanoniere der Flugabwehrgeschütze liefen von den Kanonen weg, wenn die Stukas heulend auf sie niederstürzten.
»Das ist der neue Weltkrieg, meine Herren«, sagte Heinrich Emanuel Schütze.
»Rußland fehlt noch«, meinte ein junger Leutnant.
»Nie mehr ein Zweifrontenkrieg.« Schütze stellte das Radio leiser. Ein Kriegsberichter erzählte dramatisch von der ersten Feindberührung. »Es war der Fehler im ersten Krieg, daß wir uns zu sehr verzettelten. Wir haben daraus gelernt.« Heinrich Emanuel blickte in den Himmel. Neue Wellen von Flugzeugen surrten nach Osten. Am Horizont stand jetzt eine riesige Rauchwand. Dort mußte die Hölle ausgebrochen sein.
»Polen wird nächste Woche besiegt sein«, sagte er. »Dann werden wir Frankreich vornehmen. Meine Herren – wir haben da etwas gutzumachen …«
Die Zustimmung war müde. Schütze spürte es … ihm erging es nicht anders. Ein neuer Weltkrieg … wie eine klebrige Hand drückte es ihm im Nacken. Er hatte Verdun und die Somme noch zu sehr in der Erinnerung, er sah die Panzerwagen über die Gräben von Cambrai rollen. Was jetzt kommen würde, übertraf alles, was man bisher unter Krieg verstanden hatte. Die Stukas waren nur der Auftakt.
Am 3. September erklärten England und Frankreich den Krieg. Bis zuletzt hatte man in der Umgebung Hitlers und Hitler gehofft, daß die vorangegangenen Ultimaten nur Bluffs gewesen seien, um die Deutschen einzuschüchtern. Nun war es ernst geworden. Europa ging in Flammen auf.
»Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann gnade uns Gott«, sagte Göring voll dunkler Ahnungen an diesem 3. September 1939.
Er wußte wie kaum ein anderer, daß die deutsche Wehrmacht nicht stark genug war, gegen eine Welt zu kämpfen. Hauptmann Schütze wußte es nicht.
Er vertraute wie immer auf das, was er befohlen bekam. Diejenigen, die befehlen, müssen den größeren Überblick haben. Das war seine Ansicht. Er selbst sah nur den Abschnitt seiner Kompanie oder seines Bataillons. Außerdem war die Situation anders als 1914. Man hatte keine Illusionen mehr …
Zehn Tage überrannte er Polen. Er mußte sich erst wieder daran gewöhnen, daß Tote und Verwundete um ihn herum waren. Als sein erster Zugführer fiel, zerfetzt von einer Granate, bekam er wieder den Schock, den er schon als junger Leutnant erlitten hatte, als sein Feldwebel neben ihm herlief, mit einem halben Kopf, mit herausquellendem Gehirn, bis er nach zehn Schritten vornüberstürzte. Aber dann gewöhnte sich Schütze auch an das Sterben. Vor Sierpc sah er den ersten Treck von Flüchtlingen. Eine lange Schlange von Bauernwagen, vollgestopft mit Betten, Hausrat und alten Männern, Frauen und Kindern, gezogen von Ochsen und Kühen, bewegte sich langsam über die einzige Straße. Sie kamen aus den brennenden Dörfern, aus den zerfetzten Städtchen … sie zogen den deutschen Truppen entgegen, das Grauen in den Gesichtern, als sei es in die Haut eingeritzt.
Sie verstopften die Vormarschstraßen der deutschen Divisionen. Sie ballten sich an den Kreuzungen zusammen. Feldgendarmerie jagte sie seitlich in die Felder. Als die Trecks immer dichter wurden, befahl man Panzer
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