Manöver im Herbst
ächzenden Laut zusammen, so wie ein Baumstamm umbricht und das letzte, ihn aufrecht haltende Holz zersplittert.
Heinrich Emanuel schleifte den Körper zu seinem Bett, legte ihn hin, deckte ihn zu, nahm seine Mütze, sah in den Spiegel und rieb sein Gesicht, um die Blässe aus den Wangen zu treiben. Dann schloß er hinter sich ab und ging an den meldenden Wachen vorbei zum Bataillonsrevier. Nichts an ihm verriet, was wenige Minuten vorher in seinem Zimmer geschehen war. Sein Gang war forsch wie immer. Das Gesicht verschlossen, kantig. Sein »Danke. Weitermachen« schnarrend wie immer. Sein Blick auf die Uniformknöpfe gefährlich und gefürchtet wie seit Jahren.
Der Bataillonsarzt trank gerade Kaffee, als Major Schütze eintrat. Er winkte und zeigte auf den gedeckten Tisch.
»Kommen Sie, Herr Major. Halten Sie mit. Mutti hat einen Kuchen geschickt. Sie mögen doch Königskuchen?«
»Danke. Später. Ich brauche Ihre Hilfe, Doktor –«
»So ernst?« Der Stabsarzt setzte seine Kaffeetasse hin. »Wo brennt's denn?«
Schütze atmete tief. Mit ruhiger Stimme – er wunderte sich selbst darüber – sagte er:
»Ich habe heute nacht einen Gefangenen gemacht –«
Der Stabsarzt sprang auf. Er strich sich ungläubig über die Haare. »Sie? Hier? Hinter der Front? In der Nacht?«
»Ein versprengter französischer Offizier. Ich ritt durch die Weinberge … Luft schnappen, wissen Sie … Es gab einen kurzen Kugelwechsel. Ich habe ihn angeschossen. Oberschenkelsteckschuß.«
Der Stabsarzt griff nach Koppel und Mütze. »Ich komme sofort mit Ihnen. Schwerverletzt?«
»Ich glaube – nein.«
Als sie in das Zimmer Schützes kamen, war Pierre Bollet ohne Besinnung. Er lag auf dem Rücken, hatte die Decke weggetreten und phantasierte.
»Wir bringen ihn sofort weg«, sagte der Stabsarzt nach kurzer Untersuchung der Oberschenkelwunde.
Heinrich Emanuel half mit, Pierre auf eine Trage zu legen. Wie ein Kind deckte er ihn zu. Die verwunderten Blicke der Sanitäter und des Arztes interessierten ihn nicht. Was wißt ihr alle, dachte er. Nichts wißt ihr, und das ist gut so.
Sie trugen ihn hinaus, und Schütze sah ihnen vom Fenster aus nach, bis sie um die Ecke der Häuser verschwanden. Unser Sohn, Jeanette … da trägt man ihn weg. In die Sicherheit. Bestimmt. Ich schwöre es dir. Niemand wird ihm etwas tun. Er ist Soldat. Er ist ein Held. Das ist er bestimmt. Sterben wollte er, der dumme Junge, weil ich ein Deutscher bin. Ich, der Vater. Wenn er wüßte, wie wir uns geliebt haben, Jeanette. Es ist heute so wie damals … du bist mir so nah, wenn ich an dich denke … ja, ich rieche fast dein Haar. Und deine Haut war so glatt und braun und kühl und sie konnte so heiß werden, daß ich daran verbrannte … der Schütze mit seiner ganzen, realen Vernunft, die plötzlich nichts weiter wert war als ein Seufzer aus deinen Lippen oder ein Blick aus deinen, wie mit Goldstaub übersäten Augen …
Major Schütze setzte sich an den kleinen Tisch. Mit dem Taschentuch wischte er einen Blutfleck weg, den Pierres Wunde auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Dann nahm er seinen Meldeblock und schrieb ohne Zögern.
In der Nacht … Sichtung eines Franzosen … versprengt – kurzes Feuergefecht. Verlust: Ein Pferd. Gegner verwundet. Leutnant der französischen Armee. Gab sich gefangen. Abgeliefert an Stabsarzt Dr. Fritz Kroh …
Am Nachmittag wurde Pierre Bollet in einem Kübelwagen weggebracht. Zur Gefangenensammelstelle. Heinrich Emanuel stand hinter dem Fenster, etwas seitlich, damit ihn niemand von draußen sehe. Die braunen Haare Pierres flatterten im Fahrtwind, als sie durch das Dorf fuhren. Er hielt sich an der Scheibenkante fest. Er blickte nicht zur Seite zum Haus des Majors. Leb wohl, mein Junge –
Nach dem Krieg sehen wir uns wieder. Bald. Bald. Ein halbes Jahr später starb Pierre Bollet. In einem deutschen Kohlenbergwerk, bei Moers, in 438 Meter Tiefe, brach ein Streb. Die herabstürzenden Balken und Gesteinsstücke begruben ihn und zerdrückten seinen Kopf. Heinrich Emanuel Schütze hat es nie erfahren.
*
Im Frühjahr 1941 marschierten die deutschen Divisionen an der Ostgrenze auf. Auch auf sowjetischer Seite ballten sich die Truppen zusammen. Panzer, Artillerie, unübersehbare Massen von erdbraunen Leibern.
Im Führerhauptquartier lagen die Angriffspläne fertig neben den Karten. Generalstabschef General Halder versuchte noch, den Angriff hinauszuzögern. Andererseits erschreckten ihn die Meldungen aus dem
Weitere Kostenlose Bücher