Manöver im Herbst
zurück. Er öffnete die Augen. Sie brannten, als brenne der Schmerz sie aus den Höhlen. »Sie teilen Ihr Leid mit tausenden Vätern.«
»Ist das ein Trost, Doktor?«
»Nein.«
»Sie haben etwas Schreckliches gesagt. Eben.« Heinrich Emanuel sprang auf. Er sah den Brief noch einmal an. Steckte ihn in die Tasche. Mit dem Handrücken wischte er die Tränen aus seinem Gesicht. »Sie haben mir ein Schuldgefühl gegeben. Wissen Sie, was das bedeutet? Wenn ich in einen Spiegel sehe, muß ich mir zuschreien: Du bist schuld! Wenn ich die Rot-Kreuz-Wagen sehe, aus denen das Stöhnen und Wimmern der Verwundeten quillt, muß ich mir an die Brust schlagen und schreien: Deine Schuld! Wenn ich …«, er stockte und sein Gesicht verfiel wieder … »Wenn ich nach Hause komme, und meine Frau sitzt vor dem Bild unseres Jungen, dann kann ich sie nicht trösten. Ich muß vor sie hintreten und ihr zurufen: Sieh mich an … ich bin schuld! Ich ganz allein! Und sie wird es nicht verstehen … Was soll eine Mutter verstehen, wenn sie vor dem Bild ihres gefallenen Sohnes sitzt und weint? Er ist tot, wird sie sagen. Er ist tot … tot … tot … unser Christian. Unser großer, stolzer, schöner, kluger Junge … Mein Gott, mein Gott – was soll ich tun?«
»Wir hätten uns vor Jahren überlegen sollen, was wir nicht hätten tun sollen. Jetzt die Geschichte zu revidieren, ist bloß ein Tyrannenmord. Aber auch das ist nur ein Wunsch. Uns mangelt es an Mut. Ihnen – und mir auch. Wir hängen zu sehr am Leben, um es für die anderen opfern zu können. Also lassen wir es so … solange wir nicht selbst unmittelbar darunter leiden. Was kümmern uns die täglich tausend Toten? Was kümmert uns die Politik? Wir haben unser Gehalt, wir haben zu essen, wir sind in Frankreich, dicke Maden in einem herrlichen, durchwachsenen Speck … und warten erst einmal ab, wie's weitergeht. Geht's gut … nun, so sind wir Nutznießer und – deutsche Helden … Geht's schief … bester Herr Major, ich möchte nicht erleben, wie viele es immer schon gewußt haben und wie viele schon immer dagegen gewesen sind. Auch dann gibt es wieder Helden. Und auch da sind wir die Nutznießer, wir, die kleinen, armen Schweine, die im Leben nur eines kannten: Gehorchen. Bedingungslos gehorchen. Auf Teufel komm heraus – gehorchen. Träger der hervorstechendsten deutschen Eigenschaft, die uns keiner auf der Welt nachmacht: Gehorchen.«
»Man sollte alle, die von Krieg reden, umbringen!« schrie Heinrich Emanuel. »Alle, die für einen Krieg arbeiten, die Kanonen und Granaten herstellen, die Granaten bestellen, die da oben irgendwo sitzen und Tag und Nacht nichts anderes denken als wie: Gibt es einen Krieg? Und wann? Und wenn es ihn gibt, wie gewinne ich ihn? Und für diesen Gedanken Milliarden ausgeben und ins Volk hineinschreien: Es geschieht doch nur für euch … Sie alle, alle sollte man umbringen! Umbringen! Umbringen!«
Dr. Kroh goß ein neues Glas Kognak ein und hielt es Schütze vor das verzerrte Gesicht. »Noch einen, Herr Major. Mit einem Toast sogar: Auf Ihr Wunschbild, das nie Wahrheit werden kann. Wie und wo sollte man dann die arbeitslosen Politiker einsetzen? Zu Aufräumungsarbeiten an den Trümmern, die sie geschaffen haben? Es handelt sich hier um Kopfarbeiter, lieber Herr Major. Nichts ist Irrtümern mehr unterlegen, als das menschliche Gehirn. Wollen Sie den Politikern aus anatomisch-psychologischen Unzulänglichkeiten einen Strick drehen? ›Wir haben uns geirrt‹, sagen sie, wenn's schiefgeht. Und ›Wir hatten recht!‹ – wenn's gutgeht. Beide Ansichten laufen durch die gleichen Hirnwindungen. Einbahnstraßen des Charakters.« Dr. Kroh hob beide Arme und trank sein Glas leer. Er stürzte den scharfen Kognak hinunter, als wolle er sich betäuben. »Da kann man nichts machen. Von der Schafherde, die dem Leithammel nachläuft, unterscheiden wir uns bloß dadurch, daß wir lauter und anhaltender blöken.«
»Wie jetzt –«
»Genau. Wir verstehen uns, Herr Major.«
Heinrich Emanuel drückte die Hand auf seine Rocktasche. Der Brief knisterte durch das Tuch. »Ob … ob es meine Frau schon weiß?«
»Rufen Sie Ihre Gattin an.«
»Unmöglich. Was soll ich ihr sagen? Sei ganz still, sei ganz tapfer … soll ich das sagen? Kann man einer Mutter sagen: Sei tapfer? Wo gibt es Mütter, die so etwas ertragen können?«
»In den Heldensagen, die man unserer Jugend als Vorbild vorsetzt.«
»Soll ich sagen: Unser Christian – Amelia, wir können es nicht
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