Manöver im Herbst
Liste, die wir fanden. Auch in der Zentrale in Berlin sind Sie unbekannt. Sie sind losmarschiert, weil man es Ihnen befahl –«
»Ja …«
»Wer hat befohlen?«
»Das weiß ich nicht. Ich bekam einen Anruf …«
»Und da sind Sie einfach losgezogen? Das klingt ja schlimmer als bei der Märchentante. Wenn jetzt wieder einer anruft und sagt: Legen Sie den Schörner um, dann tun Sie's, was?«
»Wenn der Befehl einer vorgesetzten Stelle …« Heinrich Emanuel holte tief Luft. Der Druck wich langsam von ihm. Er lebte. Er wurde nicht erschossen. Er stand in keiner Liste. »Sie haben doch auch Befehle, Standartenführer. Fragen Sie auch erst bei Ihrem Gruppenführer nach, ob diese Befehle wirklich sinnvoll sind? Oder führen Sie sie nicht aus, weil Sie Ihnen nicht passen?«
Ehrenbach warf den Dolch auf den Schreibtisch und wandte sich ab. Sein Blick fiel aus dem hohen Fenster in den Garten. Auf die lange Mauer, deren Putz an vielen Stellen abgesprungen war. Neuerdings erst, seit einundzwanzig Tagen. Wenn die Knallerei im Garten begann, hatte er immer die Vorhänge vor die Fenster gezogen.
»Ich muß Sie entlassen, Herr Oberstleutnant«, sagte er.
»Das tut Ihnen leid, nicht wahr?«
»Ehrlich gesagt,: Ja. Ich habe ein ungutes Gefühl.« Ehrenbach drehte sich zu Heinrich Emanuel um. Seine scharfen Augen musterten ihn, suchten Unsicherheit. Aber sie fanden nur Müdigkeit, eine an der Grenze angelangte Erschöpfung. »Sie stellen mir den Typ des blind gehorchenden Komißkopfes vor«, fuhr Ehrenbach fort. »Der Mann, der nicht denkt, der kein Gut und Böse kennt, der eben nur das macht, was man ihm zubrüllt. Mit dieser Einstellung wollen Sie bis zum Oberstleutnant gekommen sein …«
»Sie sehen es«, sagte Schütze müde. Er schwankte im Sitzen. Schlafen, wünschte er sich. Endlich wieder lang ausgestreckt, weich und selig schlafen.
»Warum haben Sie beim 20. Juli nicht aktiv mitgemacht?«
»Ich habe einen Eid geleistet. Auf den Führer. Ich kann mich nicht selbst von einem Eid entbinden –«
»Hm.« Ehrenbach sah Schütze mit schiefem Kopf an. Meint er es ehrlich damit, fragte er sich im stillen. Oder ist er ein so raffinierter Bursche, daß er mir den tumben Landsknecht vorspielt? Er dachte an den Lebenslauf Schützes, den er vom Reichssicherheitsdienst bekommen hatte. Nie sonderlich aufgefallen. Immer subaltern. Nur im Egerland ein Zusammenstoß wegen ›politischer Häftlinge‹. In der Kampfzeit der Partei bekannt geworden durch die Verhaftung der drei nationalsozialistischen jungen Leutnants. Aber auch hier nur aus den Motiven sturen Militarismus. Kein Parteigänger. Politisch impotent. Ein Beamter in Uniform mit dem einzigen Ehrgeiz, in den Generalstab zu kommen. Einige wehrtaktische Schriften, die indiskutabel waren. Ab und zu große Fresse, aber nie sich festlegend.
»Sie werden dem Generalkommando Paris wieder zur Verfügung gestellt.« Standartenführer Ehrenbach unterschrieb ein Papier, das in einer ledernen Mappe vor ihm auf dem Tisch lag. »Sie werden alles verändert wiederfinden.«
»Das glaube ich.«
»Die Invasion macht Fortschritte. Die Engländer drücken gewaltig nach Frankreich herein.« Er beobachtete Schütze aus den Augenwinkeln.
Heinrich Emanuel war zu müde, um zu reagieren. Ihm war plötzlich alles gleichgültig. Was wird Amelia machen, dachte er nur. Die ganze Zeit hat sie nichts von mir gehört.
»Darf ich schreiben?« fragte er leise.
»Aber ja. Sie dürfen wieder alles, Herr Oberstleutnant. Nur keine neue Revolte mitmachen. Sie sind doch ein freier Mann.«
»Danke.«
»Heil Hitler!«
Schütze erhob sich. Er riß alle Kraft, die ihm noch geblieben war, in sich zusammen. Er zog den Uniformrock straff, setzte die Mütze auf und grüßte. Dann ging er, wie eine aufgezogene Puppe, aus dem großen Zimmer. Schritt nach Schritt setzend, mit hohlem Rücken. Ehrenbach sah ihm nach, fasziniert fast.
Was würde er jetzt wohl machen, wenn er keine Uniform tragen würde, dachte er plötzlich. Dieser Mann da lebte nur für seinen Rock, für das Symbol. Wenn er in Zivil wäre, würde er vielleicht auf allen vieren aus dem Zimmer kriechen.
Vor dem Haus sah sich Oberstleutnant Schütze um.
Der Verkehr brandete weiter durch die Straßen, Militärkolonnen zogen durch, die Französinnen stellten sich mit ihren Einkaufstaschen vor den Läden an. Die Welt war weitergegangen, als sei in den drei Wochen nichts passiert.
Heinrich Emanuel ging in sein Quartier. Es war ausgeräumt. Seine Koffer
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