Manöver im Herbst
beschlagnahmt. Niemand wußte, wohin sie gekommen waren.
Er fuhr zum Generalkommando. Neue Gesichter, ein neuer Ton, viel junge Leute. Es dauerte vier Stunden, bis man die Rückkehr des Oberstleutnant Schütze ›aktenkundig‹ hatte. Als Verdächtiger des 20. Juli war er in Paris untragbar geworden.
Nachdem er die Mühle der Bürokratie durchlaufen hatte und man feststellte, daß seine Koffer bei der Gestapo abzuholen waren, bekam er einen Versetzungsbefehl.
Nach Pont-Surrère. Eine Kleinstadt an der oberen Mosel, nördlich von Nancy. Kommandeur eines Nachschublagers. Dort konnte er sich auf einen Berg von Socken und Gamaschen legen und den Krieg verschlafen.
Man schob ihn ab.
Heinrich Emanuel wehrte sich nicht. Er fragte nicht. Er ärgerte sich nicht einmal mehr. Er war ausgehöhlt worden in diesen einundzwanzig Tagen Gestapokeller. Ihm war alles gleichgültig.
Nur Ruhe, dachte er. Nur Ruhe. Und weiterleben. Wo und wie, das ist ja völlig egal. Ich will Amelia wiedersehen, die Kinder. Ich will in einem Bett sterben, nicht vor einer weiß getünchten Mauer oder in einem Dreckloch. Ganz, ganz bürgerlich will ich sterben … in einem weichen Bett, den Kopf in den Kissen, und alle sollen sie um mich herumstehen …
Am nächsten Tag schon fuhr er mit einem Militärtransportzug nach Pont-Surrère. Da es nur Güterwagen waren, fuhr er auf der Lok mit, neben dem Heizer und Lokführer. Es war ungeheuerlich für einen Stabsoffizier, so zu reisen. Aber selbst das kümmerte Heinrich Emanuel nicht mehr.
Nur weg aus Paris. Nur weg aus der unruhigen Welt. Weg in die Ruhe.
Für diese Sehnsucht wäre er selbst auf den Puffern gefahren …
*
Die Invasion überschwemmte Frankreich. Der Russe brach durch. Ostpreußen wurde überrannt. Das Elend des Krieges, bisher nur aus der Luft gekommen, kroch auch über das Land.
Millionen waren auf der Flucht. Die Trecks von Ostpreußen, aus Schlesien, aus dem Warthegau wälzten sich wie Riesenschlangen nach dem Westen. Ihre Wege waren gekennzeichnet von den Leichen, die man neben der Straße liegenließ. Erfroren, verhungert, an Entkräftung gestorben. Greise, Säuglinge, werdende Mütter.
Auch Rummelsburg wurde geräumt. Amelia und Uta-Sieglinde hatten die Möbel bereits nach Berlin geschafft. Sie wohnten in einem Zimmer. Der Ende 1942 geborene Fritz Schütze war prächtig gediehen. Auf strammen Beinchen lief er durch die ausgeräumte Wohnung, stellte sich in die leeren Zimmer und krähte, weil es so schön hallte.
Für Amelia war es eine schwere Geburt gewesen. Sie hatte lange im Krankenhaus gelegen. Heinrich Emanuel war damals auf eine Woche Sonderurlaub gekommen, hatte Giselher-Wolfram seiner schweren Verwundung wegen als wehrdienstuntauglich aus dem Lazarett zurückgeholt und Amelia mit herrlichen Sachen aus Frankreich beschenkt. Mit Strümpfen, zarter Unterwäsche, wertvollen Parfüms.
Nun waren auch Amelia, Uta, Giselher und der kleine Fritz auf der Wanderschaft. Transportmöglichkeiten gab es nicht mehr. Die Güterwagen brauchte man für den Nachschub der Truppen, Lastwagen waren beschlagnahmt oder bekamen kein Benzin, Pferde wurden mit Gold aufgewogen. Was man mit den Händen tragen konnte, war alles, was man mitnahm.
»Auch Berlin ist nicht sicher, Mutter«, sagte Giselher, als sie durch Vermittlung von Schützes ehemaliger Dienststelle eine halbzerstörte Wohnung bekamen, die Giselher mit Drahtglas, Pappe und Sperrholz wieder bewohnbar machte. »Wir sollten weiter nach Norden …«
Amelia schüttelte den Kopf. »Du tust gerade so, als ob der Russe nach Berlin kommen könnte …«
»Warum soll er das nicht?«
»Dann wäre ja der Krieg –« Amelia sah ihren Sohn ungläubig an.
»… verloren. Sprich es aus, Mutter. Er ist es bereits. Wir sollten den Engländern entgegenziehen. Am besten in die Lüneburger Heide. Da gibt es keine militärischen Ziele.«
»Da müssen wir erst den Vater fragen, Giselher.«
Aber von Heinrich Emanuel kam keine Antwort. Dreimal wurde der Postzug von englischen Jagdbombern in die Luft gejagt. Die Briefe Schützes gingen den gleichen Weg … auf den Bahnhöfen, während der Fahrt, in den Postämtern. Nur das Radio war die einzige Verbindung zur Heimat. Und die Zeitungen. Sie schrieben vom Durchhaltewillen des Volkes.
Nur im Radio Luxemburg hörte Schütze heimlich, was tatsächlich geschah. Daß Ostpreußen verloren war, daß Tausende Frauen, Kinder und Greise auf der Flucht elend umkamen, daß Deutschlands Ende nur eine Frage von
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