Manöver im Herbst
sein Hähnchen und schämte sich nicht, daß er es bis auf die Knochen abnagte. Hunger zerstört auch gesellschaftliche Formen.
»Wenn wir Sie in einen Kursus nehmen, Herr Oberstleutnant, wäre es Ihre Aufgabe, in den Camps Vorträge zu halten. Natürlich ist das freiwillig. Es wird niemand gezwungen, gegen seine innere Ansicht zu sprechen. Überlegen Sie sich das einmal –«
Heinrich Emanuel Schütze überlegte es sich. Er unterzog sich einem vierwöchigen politischen Kursus, den ein englischer Geschichtsprofessor leitete. Vierzig andere deutsche Offiziere saßen mit ihm auf den Schulbänken und erfuhren, was Demokratie ist, warum Deutschland den Krieg verloren hatte und was es tun müsse, um wieder das Vertrauen der Welt zu gewinnen. Wenn das überhaupt möglich werden könnte.
Mitte August hielt Oberstleutnant Schütze im Camp VI seinen ersten Vortrag vor 1.200 Soldaten.
›Bedeutete der 20. Juli 1944 eine Rettung Deutschlands?‹
Heinrich Emanuel sprach zwei Stunden. Spannend, plastisch, bildhaft. Er schilderte den Heldenkampf der kleinen Gruppe Offiziere, die Deutschlands Untergang aufhalten wollte. Er erzählte dramatisch von den Ereignissen in Berlin, in Schlesien, in Paris. Vor allem in Paris.
»Diese Männer, die Tod und Marter nicht fürchteten, sollten als Idealbild des deutschen Soldaten vor uns stehen!« rief Schütze. »Treue gegenüber dem Vaterland ist höher und mehr als Treue gegenüber einem Eid, den man einem Irren geleistet hatte …«
Der Vortrag war ein voller Erfolg. Die 1.200 Soldaten verließen ergriffen die Turnhalle. Offiziere gratulierten Schütze. Schütze war etwas mitgenommen, schwitzte stark und war bleich.
Plötzlich dachte er an Dr. Langwehr, der sich erschoß, als die Nachricht von Hitlers Weiterleben eintraf. Und er dachte an einen Oberstleutnant, der zum SD von Paris marschiert war und zu Standartenführer Ehrenbach sagte: Es war alles ein Irrtum …
Dessen ungeachtet wurde der ›20. Juli‹ Heinrich Emanuels Lieblingsvortrag. Mit ihm reiste er von Camp zu Camp … kreuz und quer durch Norddeutschland. Wie ein großer Schauspieler, wie ein Star, wurde er überall empfangen. Die Mundpropaganda hatte seinen Ruhm verbreitet.
Weil sein Vortrag so gut war, erließ die britische Militärregierung eine Sondergenehmigung. Heinrich Emanuel Schütze sollte seinen ›20. Juli‹ auch den politischen Häftlingen im Gefängnis von Flensburg vortragen.
Mit gemischten Gefühlen ließ sich Schütze nach Flensburg fahren. Seit seiner Gratulation bei Dönitz hatte er es nicht wiedergesehen. Das Gefängnis kannte er von einem Besuch her. Als Beisitzer eines Kriegsgerichts besuchte er damals in einer Zelle einen Fahnenflüchtigen. Einen Jungen von achtzehn Jahren. Er wollte zu seiner Mutter nach Lüneburg. Er wollte nicht sterben.
In einem großen Eßsaal waren Bankreihen aufgebaut. Auf ihnen saßen in Uniformen, ohne Rangabzeichen, die politischen Gefangenen. SS-Führer, SD-Beamte, hohe politische Leiter. Sie warteten auf einen Prozeß, der in weiter Ferne lag … oder auf eine Auslieferung, die nahe war und gleichbedeutend mit dem Tod.
Heinrich Emanuel bemühte sich, nicht daran zu denken. Er stand hinter seinem Rednerpult, sah über die Köpfe hinweg auf ein Schild im Hintergrund: ›Halte deinen Eßsaal sauber‹, und sprach über den ›20. Juli‹ besonders intensiv und dramatisch.
In einer Sprechpause, beim Einnehmen eines Schluckes Wasser, fiel sein Blick auf einen Mann in der zweiten Reihe. Er trug einen grauen Rock mit schwarzen Spiegeln, ohne Abzeichen. Der schmale Kopf mit den graublonden Haaren stach fast aus der Masse der anderen Köpfe hervor. Und dieser Kopf mit den dünnen Lippen lächelte … lächelte ganz breit und blinzelte Schütze zu, als sich ihre Blicke trafen.
Heinrich Emanuel stieg das Blut in den Kopf.
Ehrenbach. Standartenführer Ehrenbach. Er brauchte nur aufzustehen und zu sagen: Dieser Mann da … diese große Fresse, meine Herren … hat sich in die Hose gemacht, als seine Kameraden …
Schütze riß den Blick von Ehrenbach los. Kalter Schweiß klebte sein Hemd auf dem Rücken fest, die Unterhose pappte an den Schenkeln. Er trank die ganze Karaffe Wasser leer, bis er wieder fähig war, weiterzusprechen.
Nach dem Vortrag verließ er sofort das Gefängnis von Flensburg und meldete sich beim Intelligence Service krank.
»Es ist die Galle«, klagte er, als man ihn gründlich untersuchte. Man fand zwar nichts, aber man schrieb ihn trotzdem krank. Gelb
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