Manöver im Herbst
»Das Opfer seiner Soldaten ist die Stärke des Staates.« Man widersprach ihm nicht, denn es war sinnlos.
*
In Breslau und auf Gut Perritzau war man gehobener Stimmung.
Die Beförderung Heinrich Emanuels zum Oberleutnant außer der Reihe, wegen Tapferkeit vor dem Feind sogar, bedeutete für die Familie Schütze-Sulzmann einen neuen Höhepunkt. Großvater Sulzmann, der jetzt als ›Heereslieferant‹ Fleischkonserven herstellte und eine Dauerwurst entwickelt hatte, die nur den halben Fleischinhalt hatte, aber mittels Gewürzen besser schmeckte, als sie aussah, hatte seinen Kommerzienrattitel bekommen und nannte seine neue Wurst ›Kommerzienratswurst‹ in Anlehnung an den gutgehenden ›Geheimratskäse‹.
Amelia war nach dem Einbruch der Russen in Masuren schnell aus Goldap abgereist und lebte auf dem väterlichen Gut in Trottowitz. Sie packte Liebesgabenpakete, hatte den Vorsitz einer Frauenvereinigung, die Leibbinden und Ohrschützer, Socken und Fußlappen für die Krieger nähte und strickte und schrieb jeden dritten Tag einen Brief an Heinrich Emanuel, in dem sie ihm mitteilte, wie sehr sie ihn liebe, wie stolz sie und Vater und Mutter auf ihn seien und daß sie so sehr auf seinen Urlaub hoffe. Sie habe Sehnsucht …
Oberleutnant Schütze trug diese Briefe gebündelt mit sich herum. Sie nahmen in seinem Offiziersgepäck eine massive Ecke ein, eingewickelt in Ölpapier, damit die Briefe bei einem etwaigen Wassereinbruch in den Unterstand keinen Schaden nahmen.
Hauptmann Stroy war in der Marneschlacht vermißt. Petermann hatte als neuer Hauptmann die Kompanie übernommen und lag verwundet im Lazarett von Bad Kreuznach. Baron v. Perritz hatte sich ebenfalls zur Verfügung gestellt. Er war als landwirtschaftlicher Sachverständiger eingesetzt. Durch die vollkommene Blockade Deutschlands wurde eine zweite Schlacht im Inneren des Landes geschlagen. Der Kampf um die Stabilisierung der Ernährung. Der Vier-Wochen-Krieg, auf den alle Hoffnungen vereinigt waren, auf den sich alle Stäbe eingestellt hatten und der die Grundlage aller Organisation war, hatte sich zu einem Stellungskrieg entwickelt, dessen Ende nicht vorauszusagen war. Es hieß, sich auf lange Zeit einzurichten. Nicht nur militärisch, auch in der Ernährung von 50 Millionen.
Kurz vor dem Ende der Winterschlacht in der Champagne widerfuhr Heinrich Emanuel Schütze ein Unglück, das niemand seinem ärgsten Feinde wünscht.
Bei einem Spazierritt entlang des Marne-Mosel-Kanals, wo sein Bataillon zehn Tage in verdienter Ruhe lag, nachdem zwei Drittel davon aufgerieben worden war, wurde Oberleutnant Schütze von einer Gruppe Franktireurs entdeckt, überfallen und entführt.
Wie in allen Kriegen gab es auch 1915 in den besetzten Gebieten Gruppen von Freischärlern. Ihre Aufgabe war es, den Nachschub zu stören, die rückwärtigen Verbände zu beunruhigen, den Train aufzureiben, die Bevölkerung gegen die Deutschen aufzuwiegeln und einen Kleinkrieg hinter den Fronten zu führen. Sie hatten alle Waffen, die auch die uniformierte Truppe besaß. Sie hatten ihre Offiziere, ihre Kompanien. Ihre Kampfzeit war die Nacht … am Tage standen sie in Werkstätten und Fabriken, arbeiteten auf den Feldern … biedere Franzosen, die der Krieg überrollt hatte.
An diesem kalten Märztage war eine Gruppe dieser Franktireurs unterwegs, um eine Bäckereikompanie auszuheben. Daß ihnen Oberleutnant Schütze in den Weg ritt, war Zufall. Erst war man unschlüssig, was man tun sollte. Schließlich beschloß man, den einsamen Reiter als möglichen Zeugen auszuschalten.
Ehe Heinrich Emanuel begriff, was um ihn herum geschah, stürzte sein Pferd unter ihm zusammen. Ein Schuß hatte es mitten in die Brust getroffen. Schütze flog in einem weiten Bogen durch die Luft und in den Schnee. Er sprang sofort wieder auf, riß seine Pistole aus der Pistolentasche und brachte sie in Anschlag.
Neben dem Pferd und um ihn herum standen, als seien sie aus dem Schnee aufgetaucht, neun bewaffnete, finster blickende Zivilisten, in langen Wintermänteln, tief in das Gesicht gezogenen Kappen und durch Munition aufgeblähten Taschen.
Oberleutnant Schütze sah die Sinnlosigkeit seines Widerstandes ein. Er warf die Pistole in den Schnee und hob die Arme.
»Allez!« schrie ihn jemand an. Er bekam einen Kolbenstoß in den Rücken und einen ins Gesäß und stolperte durch den hohen Schnee, den Kanal entlang über Felder und buschiges Gelände.
Sie werden mich erschießen, dachte er. Das ist klar. So
Weitere Kostenlose Bücher