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Manöver im Herbst

Manöver im Herbst

Titel: Manöver im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wo Heinrich Emanuel weggefahren war, wo seine blauen Augen sie nicht mehr ansahen, wo wieder das Ungewisse, die tägliche Angst vor dem Briefträger begann, der – wie so vielen in Deutschland – einen Brief bringen konnte mit der Aufschrift ›Gefallen für Kaiser und Vaterland‹, jetzt wo sie wieder allein auf dem Bahnsteig stand und nur eine vergehende Rauchwolke am Himmel ihr weggegebenes Glück andeutete, kam ihr das vergangene halbe Jahr wie ein Tag vor.
    Oberleutnant Schütze schien es nicht so zu empfinden. Der Abschied war kurz gewesen. Er hatte sie geküßt, ja … aber irgendwie schien es, als schäme er sich, vor allen anderen Soldaten solche persönlichsten Dinge zu demonstrieren. Das war etwas, was Amelia in all den Monaten nicht verstehen konnte: Mit seinen 22 Jahren war Heinrich Emanuel anders, ganz anders als die jungen Männer seines Alters sonst sind. Er sah aus wie ein hochaufgeschossener Junge, aber seine Ansichten, seine Sprache, seine Bewegungen, der Ausdruck seiner Persönlichkeit waren ihm zwanzig Jahre voraus. Wenn man die Augen schloß und ihn nur sprechen hörte, gut artikuliert, etwas abgehackt, die Sätze in Wortgruppen zerlegend, konnte man glauben, ein alter Major hielte einen Vortrag.
    Niemand fiel dies so auf wie Amelia. Schützes Umwelt nahm es hin, weil es vielleicht zur Uniform gehörte. Aber eine so junge und lebenslustige Frau wie Amelia spürte, daß hier im Wesen ihres Mannes ein Bruch war … Jugend, die keine Jugend war, Reife, die auf tönernen Füßen stand. Großspurige Gedanken, denen die Grundlagen fehlten. Klingende Worte ohne Tiefe. Eine Fassade von erlesenem, nicht eigenem Wissen, die nichts anderes verdeckte als einen geheimen Minderwertigkeitskomplex …
    Das alles spürte Amelia, ohne es so klar erklären zu können. Sie zog die dicke Wollstola enger um ihre Schulter und verließ schnell den Bahnhof. Sie hatte plötzlich wahnsinnige Angst um Heinrich Emanuel. Sie hatte Angst, die sie niemandem mitteilen konnte, weil man sie ausgelacht hätte: Was würde Heinrich tun, wenn Deutschland den Krieg verlöre und es keine Offiziere geben würde?
    In dieser Nacht schlief sie nicht. Sie starrte in die Dunkelheit und dachte ganz fest daran: Ich möchte ein Kind bekommen. Ich muß ein Kind bekommen. Wenn ein Kind da ist, wird Heinrich sehen, daß das Leben weitergeht. Was dann auch immer kommen mag … auch sein Leben hat dann einen Sinn …
    *
    Soustelle ist ein kleiner Ort am Abhang der Vogesen, zur Champagne hin. Er besteht aus einer breiten Straße mit Läden, einigen Querstraßen, einer Kirche mit spitzem Turm, einer Turnhalle, einer Fabrik für Blechwaren, einer Töpferei und einer Glasbläserei. Um Soustelle herum sind einige lichte Wälder, Weiden und Kleingärten. Jeder, der in Soustelle wohnt, hatte im Frieden seine Kuh auf der Wiese, einige Ziegen und Schafe, viele Hühner, zog sich sein Gemüse selbst und lebte zufrieden. Was man in den Fabriken verdiente, legte man in Wein und Sekt an, oder man vergrößerte damit seine Häuser. So war eigentlich jeder Bürger von Soustelle in gewissem Sinne wohlhabend.
    Bis der Krieg auch über diesen Ort fegte, den Kirchturm zerstörte, die Rinder wegführte, die Hühner abschlachtete, die Fabriken schloß und eine Kompanie deutscher Soldaten nach Soustelle in die Turnhalle und die Schule legte.
    Stadtkommandant des Vogesenstädtchens wurde im Oktober 1915 der Oberleutnant Heinrich Emanuel Schütze.
    Er erfuhr es auf der Division. Stabsarzt Dr. Langwehr, der ihn wie einen alten Bekannten begrüßte, sah noch zerknitterter aus, als vor einem halben Jahr. Er bot Heinrich Emanuel wieder eine Zigarette an, trank mit ihm ein Glas Wein und las die mit Schütze gekommenen Krankenblätter durch.
    »Sie wollen also weiter Krieg spielen«, sagte er und schob die Papiere nach der Durchsicht zurück. »Das ist lobenswert, nachdem wir in der Lorettoschlacht von Mai bis August einen gewaltigen Aderlaß hatten und im Augenblick nördlich von uns im Artois und in Flandern die Menschen wie vergaste Fliegen herumliegen. Auch bei uns tut sich allerhand. Seit dem 22. September rennt der Franzose gegen unsere Stellungen an. Er trommelt mit seiner Artillerie Tag um Tag. Er will zu den Vogesen durchbrechen, er will die Flanke der Flandernarmee aufreißen. Der Kaiser selbst hat die Truppenführung von seinem Hauptquartier aus übernommen. Aber irgendwie ist etwas faul an der Sache … seitdem wir nicht mehr stürmen, sondern verteidigen, wird mir

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