Manöver im Herbst
lief ein Frieren, ein Schüttelfrost. Die Haut wurde weiß, dann gelblich. Die Pupillen seiner Augen waren riesengroß, sie reagierten nicht mehr auf Helligkeit. Um ihn war es bereits dunkel. Er krallte seine Finger in Schützes Hand, als könne er sich vor dem Vergehen festhalten. Plötzlich schrie er auf, grell, unmenschlich. »Mutter!« schrie er. »Die Tanks … die Tanks …«
Dann lag er wieder ruhig, mit flatternden Lidern, mit murmelnden Lippen, deren Worte niemand verstand. Seine Nase wurde spitz, sein ganzer Körper streckte sich, es war fast, als lege er sich bequem zurecht. Als sein Körper ausgeblutet war, verlöschte sein Herz. Heinrich Emanuel spürte es daran, daß sich die Fingernägel aus seiner Hand lösten und die Verkrallung nachließ.
Schütze ließ den Toten im Keller liegen. Er nahm nur die Brieftasche an sich, brach die Erkennungsmarke durch, steckte sie in seine Rocktasche, nahm die kleine, lederne Aktentasche, schnallte sie sich an den Gürtel und wartete dann am Kellereingang, bis das Trommelfeuer nachließ. Dann rannte er hinaus, über die Dorfstraße, er rannte wie ein Wilder, als führen die Tanks unmittelbar hinter ihm her. Ausgepumpt stolperte er nach einer Stunde in eine Artilleriestellung und rief nach dem Batteriechef.
»Ich brauche ein Fahrzeug!« rief er. »Ich muß zum Korps. Ich bin Kurier!«
Er bekam kein Fahrzeug. Man drückte ihm ein halbverhungertes Pferd in die Hand. Mit diesem Klepper ritt er bis zum Einbruch der Nacht. Er fragte sich durch, er suchte stundenlang … gegen Mitternacht erreichte er einen Ort und die Operationsabteilung des Armeekorps'.
Ein Major nahm ihm die Tasche ab. Fünf Minuten später kam ein Oberst in das Zimmer, betrachtete Schütze und klopfte ihm auf die Schulter.
»Sie haben die Tasche gebracht? Der Herr General möchte Sie sprechen …«
Von dem General wurde Oberleutnant Schütze zum Hauptmann befördert. Er nahm das alles wie im Nebel wahr … er schwankte vor Erschöpfung, er sehnte sich nach Ruhe, unter halbgeschlossenen Lidern hinweg sah er, wie der General ihm die Hand drückte. Er sah es nur … fühlen konnte er es nicht mehr. Dann wurde er zurück in ein Zimmer geführt. Er sah ein Feldbett, warf sich mit dem Rücken auf den Segeltuchbezug und schlief ein.
Er hat nie erfahren, was in der Tasche war. Es mußten ungeheuer wichtige Meldungen sein.
Er schlief einen und einen halben Tag ohne Unterbrechung.
Als er aufwachte, war das Korps weiter nach hinten verlegt worden. Nur ein paar Stabsoffiziere wickelten die letzten Meldungen ab.
»Der General hat Sie zum EK I und zum Hohenzollernhausorden vorgeschlagen«, sagte man ihm. »Die EK-Ausfertigung ist bereits erfolgt. Sie werden es beim Korps vom General selbst bekommen. Wir fahren in zwei Tagen nach.«
Aus diesen zwei Tagen wurden neun Monate.
In einem Artillerieüberfall ging die Nachhut des Korps verloren. Nur Heinrich Emanuel Schütze überlebte es.
Er war zur Zeit des Trommelfeuers einige Kilometer weiter hinten und besuchte gerade Stabsarzt Dr. Langwehr.
*
Plötzlich war der Krieg zu Ende.
In Kiel meuterten die Matrosen. In Deutschland zogen Gruppen mit roten Fahnen umher und schrien nach Frieden. Offiziere wurden entwaffnet. Für sie befehligten jetzt Soldatenräte die meuternden Truppen. Von der Heimat griff diese Welle bis zu den kämpfenden Truppen über. Selbst in den Schützengräben tauchten rote Fahnen auf. Ganze Bataillone warfen die Waffen weg.
An der Scheide, in der Hermannstellung, im Raume Antwerpen an der Maas zogen sich die deutschen Truppen zurück, kämpfend, ausblutend, getreu eines Eides, der sinnlos geworden war.
Am 11. November 1918 um 12 Uhr mittags schwiegen die Geschütze, verstummte das helle Zischen der MG-Garben, das Blubbern der Granatwerfer, das Gedröhne der Raupenketten der Tanks, das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden.
Waffenstillstand.
Deutschland hatte den Krieg verloren.
In der Heimat wurden den Soldaten die Kokarden von den Mützen gerissen, die Orden von der Brust gezerrt, die Schulterstücke zerfetzt. Offiziere wurden, wenn sie sich wehrten, zu Tode geprügelt. Überall wehten rote Fahnen. Rathäuser wurden von bewaffneten Zivilisten besetzt. Der Ruf nach der Abdankung des Kaisers schallte hunderttausendfach.
Im Reichstag sprach der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann. Als kaiserlicher Staatssekretär im Kabinett des Reichskanzlers Prinz Max von Baden hatte er am 9. November 1918 die Republik proklamiert. Jetzt war er
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