Manöver im Herbst
Heinrich Emanuel Schütze am 10. Januar 1916 wieder in Soustelle ein.
Die 2. Winterschlacht in der Champagne war abgebrochen worden. Um Verdun herum massierten sich neue Truppenverbände. Der Kronprinz selbst leitete den Aufmarsch der deutschen Armee. Im Großen Hauptquartier in Bad Kreuznach arbeitete der Kaiser selbst zusammen mit Generalfeldmarschall v. Hindenburg und Generalleutnant v. Ludendorff die Angriffspläne aus. Theoretisch konnte nichts mehr geschehen. Der Krieg mußte 1916 endlich gewonnen werden. Drei Kriegsjahre – das hatte man nicht vorausgesehen und nicht erwartet. Das hatte man vor allem in der Organisation nicht eingeplant. Am allerwenigsten im Ernährungsplan der Zivilbevölkerung.
Jeanette Bollet war nicht in der Kommandantur, als Oberleutnant Schütze in Soustelle eintraf. Statt des langhaarigen Mädchens putzte eine alte, dicke Frau den Flur der Kommandantur.
Heinrich Emanuel stürmte in sein Dienstzimmer. Der alte Hauptmann saß beim Morgenkaffee, las die Frankfurter Zeitung und hatte seine Beine auf einen Stuhl gelegt. Er hatte gestern bei einer Inspektion nasse Füße und einen Schnupfen bekommen.
»Wo ist unsere Putzhilfe?« fragte Schütze nach der üblichen Begrüßung.
»Die schrubbt doch draußen.«
»Ich meine Jeanette Bollet –«
»Die ist nach Silvester nicht wiedergekommen. Ich habe einen Gefreiten zu ihr geschickt … aber die Familie Bollet ist auch weg. Sind vielleicht in eine Stadt, wo's mehr Arbeit gibt. In diesem Nest verblödet man ja.«
Heinrich Emanuel ritt trotz des eisigen Windes und des hohen Schnees zur Glasbläserei. Das Haus hinter der Fabrik war leer. Zwar standen die Möbel noch in den Zimmern, aber die Schränke waren leer. Auch Jeanettes Sachen waren fort.
Oberleutnant Schütze setzte sich ratlos. Dann sprang er wieder auf und riß verzweifelt alle Schränke, alle Schubladen auf. Er durchsuchte das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden, er suchte nach einer Mitteilung Jeanettes, er suchte nach einem Hinweis, wohin die Familie Bollet gezogen war.
Als er nichts fand, setzte er einen Zug seiner Kompanie ein. Er ließ die Nachbarn fragen, er verhörte zwei Tage lang die Bewohner von Soustelle, er ließ den Ort fast umdrehen … keiner hatte die Bollets wegfahren sehen. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Sie hatten ein fast anonymes Leben in Soustelle geführt. Ja, man fragte sogar zurück: Wer ist denn Bollet?
Heinrich Emanuel schloß sich in sein Zimmer ein. Er starrte auf das Sofa, auf das Bett, auf den Waschtisch, vor dem Jeanette so oft nackt gestanden hatte und sich wusch. Er meinte, noch in den Kissen den süßlichen Schweiß der Nacht zu riechen, den geilen Geruch ihres Körpers.
»Jeanette«, sagte Heinrich Emanuel leise. »Ich habe das alles doch nicht geträumt –«
Er griff zu einer Verzweiflungstat. Er meldete der Armee, daß es ihm durch pausenlose Verhöre gelungen sei, den Kopf der Franktireurs zu wissen. Mit seiner Ergreifung habe man den Schuldigen für alle Überfälle der letzten Monate. Er heiße Charles Bollet und sei mit seiner Familie seit der zweiten Dezemberhälfte flüchtig.
Wenn sie Charles Bollet finden, sehe ich auch Jeanette wieder, dachte er. Ich muß ihn opfern, um sie wiederzuhaben. Ich werde wahnsinnig, wenn ich alleinbleiben soll. Ich kann nie mehr allein in dem Bett schlafen, in dem sie an meiner Seite gelegen hat, heiß, wild, unersättlich. Im Armeekommando wurde die Meldung sachkundig bearbeitet. Man ließ suchen und fand nichts. Man fertigte Steckbriefe aus mit Belohnungen … es meldete sich keiner, der Bollet verriet.
Jeanette blieb verschwunden. Sie hatte keine Spur hinterlassen. Wie ein heißer Wind war sie über Heinrich Emanuel hinweggeweht … und den Wind kann man nicht halten.
Am 21. Februar 1916 begann die Schlacht um Verdun. Das größte und wahnsinnigste Drama des Weltkrieges. Zwei Nationen hatten begonnen, sich auf einem Fleck von wenigen Quadratkilometern auszubluten. Der tödliche Aderlaß des deutschen Heeres war angestochen worden.
Oberleutnant Schütze meldete sich weg aus Soustelle. Aus jedem Winkel seines Zimmers sprang ihn die Erinnerung an Jeanette an. Er konnte nirgendwo mehr hinsehen … überall verband sich der Gedanke an ihren Körper mit den Dingen, die ihn umgaben.
Er wurde noch einmal untersucht. Der Stabsarzt sah verwundert auf den Befund. Daß ein Offizier, der so vollkommen kv war, in der Etappe Landwehrdienst tat, war ihm ein Rätsel. Die Front schrie nach
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