Manöver im Herbst
diese Truppen machten die roten Soldatenräte einen Bogen – man wußte, daß diese Soldaten sofort schössen, wenn man sie anfaßte, um ihre Orden von der Brust zu reißen.
Heinrich Emanuel Schütze versuchte, ein Telegramm nach Breslau zu schicken. Der Schalterbeamte in der Post sah ihn wie ein Weltwunder an.
»Ein Telegramm? Jetzt? In welcher Welt leben Sie denn?«
»Es ist dienstlich! Ich befehle Ihnen –«, schrie Heinrich Emanuel. Der Schalterbeamte klappte sein Fenster zu und drehte sich weg.
»Scheißkerl!« sagte er laut.
Die Auflösung war vollkommen. Schütze sah seine Machtlosigkeit ein. Er stellte sich auf dem Bahnhof an wie alle anderen Reisenden, er kletterte in die überfüllten Wagen, er stieg mindestens zehnmal um. Vier Tage brauchte er bis Breslau. Als er auf dem Breslauer Hauptbahnhof ausstieg, übermüdet, hohlwangig, mit einem blauen Auge, das ihm ein junger Eiferer beim Umsteigen in Leipzig mitten auf dem Bahnsteig schlug und dabei schrie: »Was, du Schwein, du trägst noch die Offiziersuniform?!« hatte er aus vier Jahren Krieg nichts gerettet als einen kleinen Sack armseliger persönlicher Dinge: die Briefe Amelias, ein Rasiergeschirr, zwei eiserne Rationen, ein Taschenmesser und ein kleines Buch. Die Feldbüchereiausgabe von Nietzsches ›Zarathustra‹.
Niemand holte ihn ab, denn niemand wußte, daß er kam. Auch in Breslau war Auflösung. Heinrich Emanuel ging zunächst zu seinem Großvater Sulzmann.
Der Kommerzienrat saß in einem Lehnstuhl am Fenster und sah hinunter auf die Straße, als Schütze ins Zimmer stürzte.
»Mein Junge«, sagte der Alte. »Das also ist aus uns geworden.« Er schnupfte in sein Taschentuch. »Dein Schwiegervater, der Baron, wagt sich kaum noch aus dem Haus. Seine polnischen Landarbeiter werden frech. Zwei meiner Läden haben sie zerschlagen. ›Haut ihm die Durchhaltewurst um die Ohren‹, haben sie vor meinem Fenster geschrien. Dabei habe ich nur mein Bestes für die Ernährung getan.« Er betrachtete seinen Enkel, bemerkte das blaue Auge, nickte nur und fragte nicht. »Und was willst du tun?«
»Ich werde mir einen Beruf suchen …«
»Was hast du denn gelernt außer Kommandieren? Nein, nein … du hast eine andere Aufgabe, mein Junge. Treudeutsche Männer, vor allem Offiziere, bilden überall Freikorps, um Deutschland vor dem totalen Untergang zu retten. Auf eigene Faust kämpfen sie gegen den Terror. Da solltest du hingehen, Heinrich Emanuel. Du hast die Verpflichtung, für dein Vaterland einzustehen.«
Hauptmann Schütze versprach Großvater Sulzmann, sich die Sache mit den Freikorps zu überlegen. Dann ging er durch die herbstlich kalten Straßen Breslaus zur Oder. Der Wind wehte seinen Uniformmantel um seinen schmal gewordenen Körper. Mit vorgestrecktem, gesenktem Kopf stemmte er sich gegen den Wind und ging zur elterlichen Wohnung. Er wußte, daß Amelia mit dem kleinen Christian-Siegbert seit einigen Wochen dort wohnte … auf Gut Perritzau war sie nicht mehr sicher, seit polnische Landarbeiter zweimal die Scheune angesteckt und den Baron bei einem Morgenritt mit Steinen beworfen hatten.
Das Wiedersehen war anders, als man es sich vor vier Jahren ausgedacht hatte. Nicht als Sieger kehrte man heim, sondern als ein zerschundener, aller Illusionen beraubter Soldat, der froh war, wenn er wieder Zivil tragen konnte.
Die Mutter weinte natürlich wieder, Vater Franz Schütze drückte seinem Sohn stumm, aber mannhaft die Hände. Man verstand sich ohne große Worte. Amelia sah verhärmt aus … sie hatte sich Sorgen um Heinrich gemacht. Nun, da er zu Hause war, fiel die Angst von ihr ab wie ein Korsett. Sie zerfloß in Liebe, folgte Heinrich Emanuel überall hin wie ein Hund, ließ ihn nicht aus den Augen, war immer um ihn und versuchte, in der Nacht seine Gedanken andere Wege zu zeigen als die der Revanche für den ›Dolchstoß in den Rücken der Armee‹.
Vier Wochen blieb Heinrich Emanuel in der elterlichen Wohnung und ließ sich von Amelia verwöhnen, so gut sie es konnte. Sie hatten immer noch Butter und Gemüse vom Gut, Großvater Sulzmann lieferte Wurst, die er für sich herstellte und die man ohne Nachwirkungen in Magen und Darm essen konnte. Kurz vor Weihnachten aber beschloß Schütze, zu seinem Schwiegervater Freiherrn v. Perritz durchzubrechen, um eine Gans zu organisieren.
Er fuhr allein. Amelia, die ihn begleiten wollte, beugte sich dem klaren Befehl, den Heinrich Emanuel gab: »Du bleibst hier! Perritzau ist fast Frontgebiet! Da
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