Manöver im Herbst
Schütze mit großer Selbstbezwingung, auch als Dr. Langwehr nickte.
»Diese Antwort paßt zu Ihnen. Also gut. Schon einmal habe ich die Hand über Sie gehalten. Damals, um Sie überleben zu lassen, damit Sie sehen lernen. Heute tue ich es wieder … weil Sie die falsche Brille aufhaben. Vielleicht kommen Sie eines Tages zu mir und sagen: Lieber Doktor – verpassen Sie mir andere Gläser.«
»Vielleicht –« Schütze verabschiedete sich steif. »Auf jeden Fall müssen wir die Heimat schützen …«
»Vor wem?«
»Vor den Russen –«
»Wissen Sie nicht, daß Ihr baldiger Chef der Heeresleitung Seeckt Verbindungen zur Roten Armee aufnehmen will? Zur gemeinsamen Ausbildung?«
»Das ist nicht wahr!« rief Schütze empört.
»Fragen Sie Ihren Onkel Generalmajor.« Dr. Langwehr klopfte Schütze auf die Schulter. »Nennen Sie ihm mal den Namen General Tuchatschewsky. Fragen Sie mal, was mit den 80.000 Mann los ist, die als ›Arbeitskommandos‹ wohl dem Innenminister Severing unterstehen, aber von der Reichswehr besoldet, untergebracht und ausgebildet werden. Fragen Sie, wieso es kommt, daß diese 80.000 Mann dem Oberstleutnant Fedor v. Bock, Chef des Stabes der in Berlin stationierten 3. Reichswehrdivision, unterstehen. Es ist die ›Schwarze Reichswehr‹, mein Lieber, ein Verschwörerhaufen, in dem die wieder für die Fahne begeisterten Studenten von Berlin, Jena, Leipzig und Halle eine Zukunft sehen, eine Zelle des Widerstandes gegen die Republik, einen Bund mit dem Ziel, Rache für Versailles zu nehmen. Soll ich Ihnen noch andere Namen nennen? Kurt v. Schleicher, Kurt v. Hammerstein, Eugen Ott, Oberleutnant Schulz, der 1922 im Fort Gorgast bei Küstrin den ›Bund Fridericus Rex‹ gegründet hat und jetzt mit seinen Mannen vollzählig in diesem ›Arbeitskommando‹ ist. Wo soll das hin, Herr Hauptmann a.D.?«
»Das weiß ich nicht. Das interessiert mich auch nicht. Ich bin kein Politiker, sondern Offizier.«
»Aber in Deutschland fangen die Offiziere an, Politiker zu werden. Denken Sie sich gar nichts dabei?«
»Nein«, sagte Heinrich Emanuel starr. Er verabscheute auf einmal diesen Dr. Langwehr. Der Arzt nickte mehrmals.
»Ihr ›Nein‹ ist gut. Es beweist, daß man Sie braucht. Aus Männern, die aus der Vergangenheit nichts gelernt haben, rekrutierte sich schon immer die deutsche Politik. Vielleicht ist diese Sturheit Deutschlands geschichtliche Stärke … wer kann's jetzt schon überblicken?« Er klopfte Schütze wieder auf die Schulter, was dieser unangenehm, ja fast beleidigend empfand. »Ich bürge für Sie. Natürlich. Es ist für mich fast ein Sadismus, Sie den Deutschen wieder zur Verfügung zu stellen …«
Auf der Straße, der Schildergasse von Köln, sah Heinrich Emanuel noch einmal das weiße Emailleschild an. Dr. Langwehr. Kinderarzt. Er nahm sich vor, daß dies sein letzter Besuch gewesen sein sollte.
Amelia erzählte er nichts davon. Im Gegenteil. Er sagte:
»Ein lieber Kamerad, du weißt, der Stabsarzt Dr. Langwehr, macht den dritten Bürgen. Ein netter Mensch. Es wird jetzt wohl alles klargehen …«
Und es ging alles klar. Schütze wurde zu einer letzten Eignungsprüfung nach Berlin bestellt. Zum Chef der Heeresleitung. Er nahm sein halbfertiges Buch mit. ›Das Deutsche Heer als Träger der Staatsidee. Von Arminius bis Hindenburg.‹
Schütze nahm sich vor, wenn es nötig war, noch ein Kapitel dazuzuschreiben und die Skala bis zu General v. Seeckt zu erweitern.
Für eine Karriere ist es immer wichtig, mit den Oberen in Kontakt zu bleiben.
*
132 Milliarden … das war die Summe, die Deutschland als Reparationen zahlen sollte. Und es hatte unterschrieben.
Es war klar, daß diese Summe Wahnsinn war. Als Deutschland nicht mehr zahlen konnte, besetzten die Franzosen die Ruhr und holten sich die Gelder in Kohle und Stahl heraus. Neue Freikorps entstanden, kämpften gegen die Reparationserzwinger. Ritter v. Epp wurde zu einem Begriff des Widerstandes. Der Ruhrkampf riß an den Nerven der Völker. 1923 erklomm die Inflation eine Höhe, die nicht mehr errechenbar war. Morde, Femegerichte, Überfälle, Sabotagen, Streiks, Selbstmorde, Erschießungen, Verbannungen füllten die Tage aus. Der Name des Freikorps-Offiziers Albert Leo Schlageter, der im Ruhrkampf gegen die Franzosen das Unmögliche wahrmachen wollte, nämlich die Geburt der Vernunft, wurde am 25.5.1923 auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf von den Franzosen standrechtlich erschossen. Sein Name wurde zum Fanal, seine
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