Manöver im Herbst
Kampf‹ nennt er das. Auf der Festung geschrieben, in Landsberg. Das wäre eine Lektüre für Sie. Muß ja allerhand konfuses Zeug drinstehen, habe ich mir sagen lassen. Nur eins scheint dieser Hitler erfaßt zu haben: Wir brauchen ein schlagstarkes Heer, soll er geschrieben haben …«
»Wirklich? Das schreibt er?« Schütze trank in strammer Haltung sein Glas Moselwein. »Ich werde mir das Buch sofort beschaffen und dann einen Vortrag halten, Herr Oberstleutnant.«
Er ließ an diesem Abend die Sandkastenstrategie ausfallen und ging wieder nach Hause. Manchmal haben auch Gefreite gute Gedanken, dachte Heinrich Emanuel, als er im schwachen Schein einer Tischlampe an seinem Schreibtisch saß. Man sollte sich mit diesem Hitler wirklich ernsthafter beschäftigen. Ein Mann, der an eine neue, starke, deutsche Wehr denkt, kann im Grunde nicht so schlecht sein. Wehrhaft denken heißt deutsch denken …
Heinrich Emanuel beschloß, sich ›Mein Kampf‹ zu besorgen.
*
An einem dieser strengen Wintertage geschah etwas Schreckliches.
Der Schloßteich war seit zwei Wochen gefroren. Die Jugend Detmolds lief auf seinem Eis Schlittschuh … Am Abend waren es die Liebespaare, am frühen Morgen die Bäckerjungen.
Sei es, daß es in der Nacht milder geworden war – man wußte es nicht zu erklären –, am nächsten Tag gegen Mittag brach Christian-Siegbert durch das Eis des Teiches und versank. Auf dem Heimweg von der Schule hatte die Klasse noch schnell ein paar Runden auf dem Eis gedreht.
Mit ihren Schlittschuhen, mit Fäusten und mit Fußtritten erweiterten Ewald Schwarz und Hugo Nüssling das Einbruchsloch. Dann sahen sie sich kurz an, und während die anderen Schüler weiter das Eis aufhackten, sprangen die beiden Jungen in das klirrendkalte Wasser und tauchten nach dem versunkenen Christian-Siegbert.
Dreimal kamen sie hoch, schnappten nach Luft, blau im Gesicht, mit klappernden Zähnen … beim viertenmal hatten sie den jungen Schütze an den Haaren gepackt und stemmten ihn über den Eisrand. Hilfreiche Hände nahmen den Jungen ab … dann stiegen sie aus dem Wasser und liefen, um nicht zu erfrieren, mit den Armen um sich schlagend und hüpfend, triefend nach Hause.
Ein Wagen der inzwischen alarmierten Feuerwehr brachte Christian-Siegbert nach Hause. Heinrich Emanuel war zufällig anwesend, als man auf einer Bahre den in Decken gehüllten Jungen ins Haus trug. Amelia schrie gellend auf.
Heinrich Emanuel stand starr in der Tür, unfähig, sich zu regen. Nur seine Backenmuskeln drückten sich zitternd durch die Haut. Seine Augen wurden rot.
»Papa«, sagte Christian-Siegbert leise. »Nicht schimpfen. Ich kann nichts dafür. Bestimmt nicht. Auf einmal krachte es, und ich weiß von nichts mehr …«
»Einen Arzt«, stammelte Schütze. »Einen Arzt! Sofort einen Arzt!«
»Ist schon unterwegs«, sagte einer der Feuerwehrmänner.
Als der Arzt kam, saß Schütze an Christian-Siegberts Bett und flößte ihm Tee ein. Amelia rieb den Körper mit warmen Tüchern ab; der Schweiß lief ihr dabei übers Gesicht.
»Ich habe schon alles genau gehört«, sagte der Arzt. Er stellte fest, daß keine ernsthafte Gefahr bestand, verordnete drei Tage Bettruhe und gab ein Nervenberuhigungsmittel, damit der Junge keinen Schock erlitt. »Der Schwarz und der Nüssling haben ihn gerettet«, sagte er. »Da muß ich auch noch hin. Die Kerle sind triefend durch die Kälte nach Hause gelaufen. Der Schwarz soll sich die linke Hand angefroren haben. Das sind tapfere Jungen, Herr Hauptmann! Ohne die …«
Er sprach den Satz nicht aus. Aber jeder wußte, was gemeint war.
*
Am Nachmittag ging Hauptmann Schütze weg.
In der Schloßstraße zögerte er einen Augenblick. Dann betrat er ein Café, kaufte Schokolade, ging weiter, kaufte in einem Spielwarengeschäft zwei Panzerwagen mit Gummiraupen, zwei Kanonen, aus denen man mit Erbsen schießen konnte, und zwei Spiele ›U-Boote versenken‹. Bepackt mit diesen Paketen marschierte er weiter bis an den Stadtrand und suchte in einer Siedlung nach dem Haus Nummer 39.
Anton Schwarz, Werkmeister in einer Spinnerei, sah erstaunt auf die Hauptmannsuniform, die er beim Öffnen der Tür erblickte. Dann stieß er die Tür auf und trat zur Seite.
»Herr Schütze – Sie –?« fragte er ehrlich verblüfft.
Heinrich Emanuel biß die Zähne aufeinander. Daß Schwarz ihn einfach ›Herr Schütze‹ nannte und nicht – wie es sich gehörte – ›Herr Hauptmann‹, war ein unsichtbarer Schlag. Schütze
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