Manöver im Herbst
Hüben sehr gedehnt. »Was verschafft mir diese Ehre?«
»Ihr Sohn –«, setzte Schütze an, aber Nüssling hob beide Hände.
»Aber ich bitte Sie, Herr Hauptmann.« Schütze war durch diese Anrede sehr versöhnlich gestimmt. »Das war doch selbstverständlich. Ihr Junge hätte nicht anders gehandelt.«
»Bestimmt nicht. Er ist im Geiste der Nächstenliebe und des Handelns erzogen worden.« Schütze trat in die Wohnung. Sie war gepflegter als die von Schwarz. Geruchlos. Mit etwas Kultur. Man bemerkte die Bemühungen der Nüsslings, dem kargen Leben Schönheiten abzugewinnen. »Ich möchte Ihrem Sohne gerne eine Freude machen. Kann ich ihn sehen …?«
»Aber ja.«
Hubert Nüssling führte Schütze über einen Korridor zu einer Tür. Heinrich Emanuel sah ihm in den Nacken. Mittelgroß, stämmig, gute Konfektionsgarderobe, meliertes Haar, ganz intelligentes Gesicht. Und läuft einem Hitler nach? Manchmal sind die Dinge schwer verständlich, wenn man sie von der Nähe sieht.
Auch der junge Nüssling lag im Bett, drückte dem Hauptmann die Hand und sah – wie der junge Schwarz – mit glänzenden Augen zu, wie Schütze die Geschenke auspackte. Dann schlug er die Hände zusammen und jauchzte.
»Sieh mal, Papa!« rief er. »Ein Panzer! Und eine richtige Kanone! Und ein U-Boot-Spiel! Ist das nicht schön?«
»Ja. Sehr schön, wirklich.« Heinrich Emanuel drehte sich um, er wollte sehen, ob diese Antwort spöttisch gemeint war. Aber Hubert Nüssling lächelte nicht mokant. Er beugte sich sogar über die Spielsachen, untersuchte den Panzer, schob ihn hin und her, ließ die Feder der Kanone schnippen und richtete sich dann auf.
»Sehr naturgetreu. Nach amerikanischem Muster. Leider haben wir ja in der Reichswehr nur Pappattrappen. Als wenn man mit dem Verbot eine Entwicklung aufhalten könnte. Man zwingt uns ja in den Untergrund.«
Das Herz Heinrich Emanuels quoll auf, als säße an der Aorta ein Riese und bliese das Herz als Luftballon auf. Er drückte dem Jungen noch einmal die Hand, sagte: »Und nun erfreue dich am Spiel, mein Sohn. Später wirst du – na ja …« Dann ging er Nüssling nach ins Wohnzimmer, wo Frau Nüssling bereits einen Tee bereitgestellt hatte mit einer Flasche Rum.
Zwei Stunden unterhielt sich Heinrich Emanuel mit Hubert Nüssling, dem Leiter der Kreisgruppe Detmold der NSDAP. Man trank die ganze Flasche Rum aus. Man trank Rum mit Tee statt umgekehrt.
Gegen vier Uhr nachmittags verließ Hauptmann Schütze beschwingt und glänzenden Auges das Haus der Nüsslings.
Unter dem Arm trug er ein kleines Paket.
Er hatte sich etwas ausgeliehen. Nur zum Studium. Nur, um mit der Zeit zu gehen.
Ein Buch nur. ›Mein Kampf‹ hieß es. Geschrieben hatte es ein Gefreiter.
Aber daran wollte Hauptmann Heinrich Emanuel Schütze nicht denken.
Schließlich sind auch Gefreite Menschen. Warum nicht auch Politiker? In Deutschland ist von jeher vieles möglich gewesen …
*
1929 zogen Schützes wieder um.
Nach Berlin.
Heinrich Emanuel befand sich in einer fast panikartigen Glücksstimmung. Seine Berufung in die Hauptstadt bedeutete für ihn den großen Sprung nach oben. Nicht, daß er jetzt in den Generalstab berufen wurde – das war nicht der Fall. Er wurde als Ausbildungsoffizier an die Kriegsschule der Reichswehr befohlen. Dort sollte er jungen Fähnrichen Unterricht in Staatsbürgerkunde geben.
»Das ist der Erfolg meiner Schriften«, sagte er zu Amelia, die wieder die Koffer packen mußte, die Möbelpacker mit den Kisten bestellte, die alles tun mußte, vom Geschirreinschlagen bis zum Kleiderbürsten. »Außerdem wird meine Studie über diesen Hitler bei der Obersten Heeresleitung beachtet worden sein. Die erste Sprosse auf der Generalstabsleiter haben wir hinter uns …«
Der Abschied vom schönen, stillen Detmold war kurz. Auch mit Breslau verbanden keine Bindungen mehr die Familie Schütze. Großvater Sulzmann war 1928 gestorben. Nicht arm, aber auch nicht reich. Schütze war zum Begräbnis gefahren, hatte am Grab eine Rede über den ›aufrechten deutschen Mann‹ gehalten, einen Kranz niedergelegt und die Erbschaftsangelegenheit einem Anwalt übergeben. Er hatte seinen Großvater immer sehr liebgehabt, fast lieber als seinen Vater, der noch immer auf Gut Perritzau dahindämmerte und des Abends am Tisch sich mit seiner Sophie unterhielt, als säße sie neben ihm und läge nicht schon seit fünf Jahren auf dem Breslauer Friedhof.
Baron v. Perritz war alt geworden, hatte die Gicht, konnte
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