Manöver im Herbst
Lumpen!« schrie er und schlug um sich, bis man ihn in eine Hausecke abdrängte. Dort preßten ihn kräftige Arme gegen die Wand, rissen ihm die Reichswehrmütze vom Kopf und warfen sie unter die Füße der Menge.
»Na, du Seeckt-Bluthund?« schrie jemand aus der Menge. »Nun ruf doch deine Maschinengewehre! Es lebe Rußland und die Rote Front!«
Heinrich Emanuel tastete nach seiner Pistole, die er in einem hellbraunen Futteral am Koppel trug. Aber jemand aus der Menge schlug mit einem Gummiknüppel auf seinen Arm. Schütze schrie auf. Der Arm wurde gefühllos, als wäre er mit allen Nerven gebrochen oder abgeschlagen worden. Dann hagelten Schläge von allen Seiten auf ihn herunter. Er sah nur noch schlagende Hände.
»Ihr Schweine!« schrie Schütze mit letzter Kraft. »Ihr feigen Hunde! Hundert gegen einen! Ihr … ihr …«
Dann blieb er blutend liegen. So fanden ihn Amelia und die Kinder, die mit vier alarmierten Polizisten den Hauptmann befreiten. Unbehelligt zog der Haufen mit den roten Fahnen weiter. Was sind vier Polizisten gegen hundert entfesselte Männer?
»Papa!« schrie Christian-Siegbert, »warum hast du nicht geschossen? Gib mir die Pistole – ich schieße sie alle zusammen!« Er stützte Schütze, während Amelia die weinende Uta-Sieglinde und den fassungslos starrenden Giselher-Wolfram an sich drückte.
Auf einen Polizeipfiff hin kam sofort eine Taxe. Man lud Heinrich Emanuel ein, nachdem er sich das Blut vom Gesicht gewischt hatte. Mit weißem Gesicht setzte sich Amelia neben ihn. Sie drückte ein anderes Taschentuch gegen eine Stirnwunde Schützes.
»Ich will zurück nach Detmold«, sagte sie weinend. »Laß dich zurückversetzen … ich flehe dich an. Ich will dieses Berlin nicht mehr sehen. Nie mehr. Laß uns sofort zurückfahren.«
Schütze schüttelte den Kopf. Seine aufgeschlagenen, geschwollenen Lippen bewegten sich.
»Wir sollen vor ihnen nachgeben, vor denen da? Nie! Hier stehen wir an der vordersten Front … ein Schütze weicht nicht …«
Sie fuhren in die neue Wohnung im Grunewald. Und erst im Schlafzimmer brach Heinrich Emanuel zusammen. Amelia mußte ihn zum Bett schleifen und ausziehen … er war unfähig, etwas zu tun. Wie im Fieber durchschüttelte es ihn.
Als er sich zwei Tage später beim Chef der Heeresschule, einem Oberst, meldete, waren alle Zeitungen voll von diesem Zwischenfall. Vor allem die rechtsradikalen Blätter.
»Roter Mob überfällt Reichswehrhauptmann. Was tut die Regierung?«
»Sie sehen«, sagte der Oberst. Mitleid schwang in seiner Stimme. Das Gesicht Schützes war aufgequollen, blaugelb, zerschrammt. »Wir sind machtlos dagegen. Das ist aus unserem Volk geworden. Es ist verhetzt und wahnsinnig geworden. Wenn Sie abends ausgehen, würde ich Ihnen raten, Zivil anzulegen.«
Schütze wollte etwas sagen. Seine Stimme aber versagte. Der Oberst löste sich in bunte Kreise auf … plötzlich drehte er sich wie eine Scheibe … schneller, immer schneller.
Der hinzuspringende Oberst fing Hauptmann Schütze auf, bevor er auf den Teppich fiel. Er kam sofort in das Standortlazarett. Der Arzt stellte eine schwere Gehirnerschütterung fest.
Sieben Wochen mußte Schütze liegen. Er bekam Traubenzuckerspritzen und Strophantin fürs Herz.
Fast jeden Tag besuchte ihn Amelia und blieb stundenlang an seinem Bett sitzen. Christian-Siegbert begleitete sie jedesmal.
Er trug – was Schütze nie erfuhr – unter seiner Jacke die Pistole des Vaters. Er war entschlossen, jeden zu erschießen, der die Mutter anfassen würde.
Die Zeiten hatten begonnen, in denen zwölfjährige Kinder erwachsen wurden …
9
Das erste, was Heinrich Emanuel Schütze in einem Zimmer der Kriegsschule aufstellte, war sein Sandkasten. Von Detmold ließ er sich die geschnitzten Panzer und Fahrzeuge, Truppensymbole und Geschütze kommen. Sie wurden nach seinem Weggang dort nicht mehr gebraucht.
Mehr denn je galt es jetzt, den Wehrgedanken in den jungen Menschen zu wecken und die versteckte Macht der Reichswehr im Staate wachzuhalten.
General v. Seeckt war 1926 durch ein Mißtrauen aller Parteien gestürzt worden. 1928 folgte ihm der Reichswehrminister Geßler, nachdem bekanntgeworden war, daß nicht nur enge Verbindungen zur Roten Armee bestanden, deutsche Offiziere in Moskau und Leningrad Dienst taten, sondern die heimliche Aufrüstung der Reichswehr, die Seeckt schon seit 1923 betrieb, mit finanziellen Transaktionen im Ausland bezahlt wurde. Gelder, die dem Staat durch geschickte
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