Manöver im Herbst
reichten sie Schütze hin. Er nahm sie, steckte sie in die Taschen und sah in die noch kindlichen Gesichter seiner Verhafteten. Einer von ihnen war blond, wie sein Christian-Siegbert. Er sah ihm sogar ähnlich. So wird er vielleicht aussehen in zehn Jahren, dachte Schütze. Er mußte schlucken.
»Kommen Sie«, sagte er tief atmend. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«
»Wir sind der Überzeugung, daß die Zukunft beim Nationalsozialismus liegt«, sagte der blonde Leutnant. »Unsere Gehirne sind träge, Herr Hauptmann. Von Ihrer Generation kann man nicht verlangen, daß sie über den eigenen Schatten springen kann … aber die Jugend muß gewonnen werden.«
»Ihr Spinner!« Schütze nickte zum Ausgang hin. Die beiden Leutnants gingen, hocherhobenen Hauptes. Schütze folgte ihnen in drei Schritten Abstand, nachdenklich und wütend, daß er nachdenken mußte.
Der Kommandeur war entsetzt, als Heinrich Emanuel den Vorfall meldete und die beiden Leutnants ablieferte.
»Um Gottes willen, Schütze«, sagte er, als sie allein waren. »So diskret wie möglich. Wenn das bekannt wird … in der Reichswehr betätigen sich Offiziere mit Hakenkreuzpropaganda. Ich werde es sofort weitermelden. Ich verpflichte Sie zu völliger Schweigsamkeit …«
Es blieb nicht geheim. Schon am nächsten Morgen brachten alle Zeitungen die Verhaftung der Leutnants. Ein anderer, ein dritter Leutnant hatte die Informationen der Presse gegeben, dann meldete er sich freiwillig als der dritte Verschworene.
Von den Kommunisten bis zur SA fielen alle Parteien über die Reichswehr her. Hauptmann Schütze bekam Ausgehverbot. Es war damit zu rechnen, daß man ihn auf der Straße totschlug.
Bleich saß er hinter den Fenstern seiner Wohnung im Grunewald und sah hinaus auf die Straße. SA-Leute gingen wie zufällig Tag und Nacht am Haus vorbei. Sie sahen nicht hinauf zu den Fenstern, aber Schütze wußte, daß sie alles bemerkten, was im Hause geschah.
Wieder kamen Christian-Siegbert und nun auch Giselher-Wolfram mit Beulen und Kratzwunden aus der Schule nach Hause. In jeder Pause wurden sie von den Söhnen nationalsozialistischer Väter verhauen.
Schütze rief den Direktor der Schule an. Er war kurz angebunden. »Daran kann ich nichts ändern«, sagte er schroff. »Ich kann mich nicht um alles kümmern –«
»Aber es Ihre Pflicht …«, brüllte Heinrich Emanuel. Der Oberstudiendirektor brüllte zurück.
»Meine Pflicht kenne ich! Die brauche ich nicht von einem Reichswehrsoldaten gesagt zu bekommen! Am besten ist es, Sie nehmen Ihre Söhne von der Schule –«
Schütze hieb den Telefonhörer zurück auf die Gabel.
»Nie!« sagte er bebend vor Wut. »Nie!«
Er erkundigte sich. Auch der Direktor des Gymnasiums war Mitglied der NSDAP. Schütze sah sich von Feinden eingekesselt. Die neue Zeit sprang ihn an wie ein hungriges Raubtier.
Nach vierzehn Tagen wurde Hauptmann Schütze unter dem Geleit von drei bewaffneten Reichswehrsoldaten mit einem Dienstwagen von der Wohnung abgeholt und zur Kriegsschule gefahren. Jeden Tag hin und zurück.
Dreimal geschah es, daß SA-Männer den Wagen mit Steinen bewarfen und an der Straßenecke im Chore »Lümmel! Lümmel! Lümmel!« riefen. Hauptmann Schütze saß mit starrem Gesicht im Auto … Seinen Dienst in der Kriegsschule versah er korrekt, ohne persönliche Äußerung.
Nach vier Wochen mußte er versetzt werden.
»Verstehen Sie uns bitte«, sagte der Oberst an der Kriegsschule. »Ihr gerechtes, forsches Auftreten war zu forsch. Man hätte den Vorfall vielleicht etwas diplomatischer lösen können –«
»Haben Sie denn Angst vor diesen Braunhemden?« fragte Heinrich Emanuel.
»Aber nein.« Der Oberst lächelte mokant. »Wir können es uns im jetzigen Stadium unseres stillen Aufbaues aber nicht leisten, es mit irgendeiner Partei zu verderben. Vor allem trifft die Anpöbelei Sie nicht allein, sondern den ganzen Offiziersstand … Sie verstehen –«
»Nein.«
»Man sagt Schütze und meint uns alle.«
»Ist es meine Schuld, Herr Oberst?« Hauptmann Schütze fühlte sich zurückversetzt in das Jahr 1913. Auch damals hatte er recht gehabt mit seinen Handlungen, aber er durfte nicht recht haben, weil es um eine größere Sache ging als um eine persönliche Rechtfertigung. Damals wie heute stand er fassungslos vor dem Phänomen, daß man ein Unrecht anerkennen mußte, das gar keines war. Daß man sich opfern mußte für einen Gedanken, den man nicht verstand. 1913 hatte er mit einer neuen
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