Manöver im Herbst
elend. Wie ein unverdauter, verhärteter Kloß lag ihm ein Gefühl im Magen, das er nicht erklären konnte. So muß es Hypnotisierten zumute sein, wenn sie erwachen. Sie erkennen ihre Welt nicht wieder. Sie ersticken im Katzenjammer.
Als die Verhandlung beendet war, schlich Heinrich Emanuel unbemerkt aus dem Gerichtsgebäude. Durch eine Hintertür. Vor dem Haupteingang jubelten Tausende Adolf Hitler zu. »Heil! Heil!« brüllten sie. Und eine Kapelle spielte sogar das Deutschlandlied.
Schütze blieb stehen und lauschte auf den Gesang. Er kam sich hundserbärmlich vor. Er hatte seinen Charakter verloren, in einer Stunde. Durch eine einzige Rede. Es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Er stemmte sich gegen die Gedanken, aber er schwamm ihnen davon auf einer Welle der inneren Begeisterung.
Er bewunderte Hitler.
Und weil er es tat, haßte er sich selbst.
Mit einer Taxe fuhr er zur Kaserne, wo er und seine Familie während der Verhandlung wohnten.
Es war eine Flucht, aber sie nutzte nichts.
Die Augen Hitlers flüchteten mit ihm. Seine Stimme. Seine magnetischen Worte. Das Trommeln seiner Silben.
»Welch ein Mann«, sagte Heinrich Emanuel erschöpft und umklammerte die Hände Amelias. »Mein Gott – er ist gefährlicher als der Teufel. Und er wird uns alle, alle verhexen. Es gibt einfach kein Entrinnen mehr –«
*
Die drei jungen Leutnants wurden zu je achtzehn Monaten Festungshaft verurteilt.
Im ›Völkischen Beobachter‹, im ›Stürmer‹, in allen rechtsradikalen Blättern wurden sie als Märtyrer gefeiert. »Ich mache sie zu Generälen!« soll Hitler nach dem Prozeß zu Göring gesagt haben. Dr. Goebbels hielt unter freiem Himmel eine Rede. »Man kann uns anstoßen, aber nicht umstoßen!« rief er, und die Massen jubelten ihm zu. »Wir sind Rempeleien gewöhnt … aber einmal werden wir den Remplern ihre Arme ausreißen!«
Man nahm es als drastisches Bild hin. Wer konnte ahnen, wie wörtlich es die Nationalsozialisten meinten …?
Noch bevor die Leutnants ihre Strafe antraten, ließ sich Hauptmann Schütze beurlauben.
Er brauchte keine großen Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Man glaubte ihm, daß sein Gesundheitszustand nicht der beste sei und er dringend Schonung bedürfe. Man hatte auf diese Eingabe im geheimen sogar gewartet.
Schütze wurde für drei Monate beurlaubt.
In neunzig Tagen war viel Gras über die Affäre von Leipzig gewachsen. In neunzig Tagen denkt keiner mehr an die Leutnants … denn jeder Tag dieser neunzig Tage brachte neue Sensationen, neue Überraschungen, neue Opfer.
Vor allem die Arbeitslosen stiegen an. Sprunghaft. Zwei … drei … viereinhalb Millionen … es war kein Ende abzusehen. Es war, als drehe man Deutschland langsam, aber stetig den Hahn ab. Fünfzig Millionen Verdurstende saßen vor einer Wasserleitung, und sie tropfte nur noch.
Wem der Magen knurrt, liegt eine Stunde Arbeit näher als das Schicksal von drei Leutnants und einem Hauptmann.
Die Familie Schütze fuhr für drei Monate nach Schlesien.
Auf das Gut Perritzau bei Trottowitz.
Der sehr gealterte Baron v. Perritz hatte aus der Ferne durch die Zeitungen den Prozeß miterlebt. Er empfing seinen Schwiegersohn mit der Feststellung: »Erst der Kaiser – jetzt der Hitler! Du scheinst es darauf abgesehen zu haben, immer da anzuecken, wo man eigentlich den Hintern lecken sollte.«
Die weißhaarig gewordene Baronin kümmerte sich um Amelia und die Kinder. Vier Zimmer wurden ausgeräumt und anders möbliert. Es war fast, als rechne jeder damit, daß die Familie Schütze nicht drei Monate, sondern für immer auf Perritzau bleiben würde.
Steueramtmann Franz Schütze, der murmelnd in einem Zimmer zum Park hinaus lebte, breitete die Arme aus, als Heinrich Emanuel in das Zimmer trat. »Mein Junge«, sagte der Greis mit zitternder Stimme. »Du kommst zurück. Wir haben den Krieg gewonnen, nicht wahr?«
Der Baron beugte sich über den erstarrten Heinrich Emanuel und flüsterte ihm ins Ohr.
»Seit einem Jahr ist er so. Er lebt in einer anderen Welt. Er glaubt, es sei noch immer 1918. Der Tod deiner Mutter …« Er stieß Schütze in den Rücken. »Sag etwas, dann ist er glücklich …«
Heinrich Emanuel schluckte. Er kam auf seinen Vater zu, umarmte ihn, drückte den zitternden, lallenden Greis an seine Brust und streichelte die schlohweißen Haare.
»Ja, Vater, ja«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Wir haben den Krieg gewonnen … und ich bin wieder da …«
»Siebentausend Mark habe ich für
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