Manöver im Herbst
dich gespart, mein Junge.« Mit bebenden Fingern tastete der Greis über das Gesicht Heinrich Emanuels. »Mutter und ich … ganze siebentausend Mark. Du kannst sie haben. Wir haben es nur für dich getan.«
»Danke Vater. Vielen, vielen Dank.« Schütze biß sich auf die Unterlippe. Er hätte schreien können. Vorsichtig führte er seinen Vater zum Sessel zurück und ließ ihn sich setzen. Der Alte ließ seine Finger über die Uniform gleiten.
»Was bist du jetzt?« fragte er stolz.
»Hauptmann, Vater.«
»Und wie geht es dem Kaiser?«
»Gut, Vater.«
»Ist er nicht ein kluger Mann, unser Wilhelm? Ich führe euch glorreichen Zeiten entgegen, hat er gesagt. Und nun ist es soweit. Du bist da, und wir haben den Krieg gewonnen.«
»Ja, Vater …«
Sie sprachen noch ein paar Sätze. Dann schlief der alte Schütze plötzlich ein. Heinrich Emanuel merkte es erst, als die Atemzüge tief und regelmäßig wurden. Auf Zehenspitzen verließ er das kleine Zimmer.
Als er an der Tür zurückblickte, sah er, wie der Vater den Kopf zur Seite auf die Rückenlehne gelegt hatte. Er lächelte glücklich im Schlaf.
Sein Sohn hatte den Krieg gewonnen … und dem Kaiser ging es gut …
*
Zwei Wochen saß Heinrich Emanuel auf Gut Perritzau herum und las die Zeitungen, spielte mit dem Baron und der Baronin Sechsundsechzig, ließ sich von Amelia Patiencen legen oder schnitzte seinen Jungen aus Lindenholz Schwerter, Gewehre und bastelte aus Pappe und Kistendeckel Helme. Dann wurde es ihm zu langweilig. Auch der Sandkasten, der noch immer auf dem Gut stand, seit 1915, begeisterte ihn nur wenige Tage. Er wurde unruhig, ging mißmutig durch den Park, bekam mit Amelia Streit, weil sie den Jungen verbot, ›Deutschland besiegt Frankreich‹ zu spielen, und auch eine Jagd mit dem Baron befriedigte ihn nur so lange, wie die Gewehre knallten.
In der dritten Woche hatte Heinrich Emanuel endlich ein weites Betätigungsfeld gesichtet und abgetastet.
Nach der Normalisierung des Lebens – wie man die Zeit nach der Inflation und die Herrschaft der Rentenmark nannte – waren auch wieder polnische Landarbeiter auf das Gut Perritzau gekommen. Es gab viele Polen, die lieber auf einem deutschen Hof arbeiteten als in den durch den Versailler Vertrag an Polen gekommenen Kohlengruben Oberschlesiens.
Auf den deutschen Gütern gab es Gerechtigkeit, gab es gutes Essen, eine menschenwürdige Wohnung und vor allem eine fast familiäre Behandlung. In dieses Idyll hinein stieß wie ein Orkan die Betätigungswut Heinrich Emanuel Schützes.
Er inspizierte eines Tages die Unterkünfte der polnischen Landarbeiter und fand sie saumäßig dreckig.
Er kostete das Essen, das die Madkas kochten und hinaus aufs Feld brachten … es schmeckte widerwärtig. Er spuckte es aus.
Er ritt auf die Felder und kontrollierte mit der Uhr das Arbeitstempo der Kolonnen. Das Tempo war schneckenhaft und völlig unproduktiv.
Heinrich Emanuel verwandte drei Tage dafür, in einer eingehenden Denkschrift zu beweisen, daß
a) die Unterkünfte bei dieser Pflege nicht länger als drei Jahre mehr halten würden,
b) das Essen in gegenwärtiger Zusammensetzung die Arbeitskraft lähmte (bei Ausklammerung des sichtbaren Kinderreichtums), und
c) das Arbeitstempo den Stundenlohn nicht rechtfertigte. Die errechnete Arbeitsleistung sei 75,45 Pfennig pro Stunde beim gegenwärtigen Tempo.
Vorschlag: Umorganisierung der Landarbeiterschaft nach den Richtlinien produktiver Erziehung.
Freiherr v. Perritz las die Denkschrift genau durch, sah seinen Schwiegersohn mit unverhülltem Mißtrauen an und hob dann die Schultern.
»Versuche es, Heinrich. Aber wenn die Polen dich lynchen – ich kann dich nicht schützen.«
Amelia sagte nichts. Sie hatte es aufgegeben, Heinrich Emanuel von etwas zu überzeugen, was bei ihm in einer anderen Richtung zur festen Ansicht geworden war. Sie kümmerte sich nur noch um die Kinder. Was Schütze ihnen in den wenigen Stunden seines häuslichen Daseins in Kurzlehrgängen beibrachte, dämpfte sie ab, verwässerte es oder bog es um.
Hauptmann Schütze begann seine Landarbeiterreform, indem er wöchentlich Haus- und Geräteappelle einführte.
»Für den Soldaten ist die Braut das Gewehr. Für den Landmann die Mistgabel und der Rechen. Also, Leute – pflege des Gutes ist halbe Ernte und gutes Leben.«
Die polnischen Landarbeiter, solcherart halbmilitärisch angesprochen, reagierten, wie alle guten Arbeitskräfte reagieren. Sie ließen die Dinge auf sich zukommen,
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