Manöver im Herbst
verkündete den Sieg der NSDAP, die Zerschlagung der Kommunisten, die Freiheit Deutschlands, die Anullierung des Versailler Vertrages, Arbeit und Brot für Millionen … und es gab bereits fünf Millionen Arbeitslose … eine neue starke Wehrmacht … er versprach alles, was der Arbeiter erhoffte, der Bürger erträumte, der Industrielle erwartete … er sprach die Träume eines Volkes aus, das in einem Sumpf schwamm und sich nach einem festen Ufer sehnte. Und er sprach von den Träumen der Militärs, die die glorreiche Zeit des bunten Rockes nicht vergessen konnten.
Durch die Reichswehr ging unsichtbar, aber spürbar ein Riß. Mit der Verurteilung der drei jungen Leutnants war eine Wunde bloßgelegt worden, die im Reichsgericht von Leipzig nicht geschlossen, sondern weiter aufgerissen wurde. Im Offizierskorps der Reichswehr standen sich Republikaner und geheime Nationalsozialisten gegenüber. Überall geisterte die Hoffnung durch die Gehirne, daß mit diesem Adolf Hitler eine Blüte des Militarismus in Deutschland neu erstehen konnte, wenn man ihn emporhob in den Sessel des Kanzlers und dann vom Hintergrund aus leitete nach den Plänen des Generalstabs und der Heeresleitung. Man sah in ihm eine Strohpuppe, ein Aushängeschild … es war in den Gehirnen der Generale unmöglich, daß ein Gefreiter jemals so groß werden könnte, ihnen, den gelernten Strategen, zu befehlen. Man dachte es sich anders, bequemer, hinterhältiger. Unter der Maske des nationalen Sozialismus eine Herrschaft des Militarismus … das war der große Traum der Männer mit dem goldenen Eichenlaub auf rotem Grund.
Heinrich Emanuel Schütze fühlte sich in diesem Widerstreit der politischen Ansichten denkbar unwohl. Vor allem im Kasino waren die erregten Gespräche durchaus nicht auf dem Gebiet, auf dem Hauptmann Schütze sonst die Unterhaltung an sich riß und zu einem Vortrag ansetzte. Die Kommunisten haßte er … vor den Nazis hatte er Angst. Das war ein feiner Unterschied. Nur ihn erklären konnte er nicht … es war unmöglich, daß ein Hauptmann der Reichswehr Angst hatte. Vor einem Gefreiten! Undenkbar. Auch wenn dieser Gefreite mit dem Schnurrbart etwas Diabolisches an sich hatte, was Heinrich Emanuel nie vergaß … seit jenem Tag in Leipzig.
Christian-Siegbert war nun vierzehn Jahre alt. Er hatte die Schule gewechselt, aber auch auf dem anderen Gymnasium herrschte politische Verwirrung. Der Geschichtslehrer erzählte von Hitler und dem denkwürdigen 9. November an der Feldherrnhalle … der Lateinprofessor wollte das monarchistische Denken wecken und ließ Erlebnisse von 1870/71 in die Lateinübersetzungen des Gallischen Krieges von Cäsar einfließen. Ja, es soll – so sagte man – sogar im Lehrerzimmer zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen drei Studienräten gekommen sein, weil einer von ihnen gesagt hatte: »Mit Brüning wird alles besser.«
Heinrich Emanuel hatte sich an diesem Abend der Uniform entledigt und saß in einem Sessel, las den ›Völkischen Beobachter‹, den er sich von einem Jungen heimlich aus einem Kiosk holen ließ, und versuchte, seine Angst mit nationalen Erkenntnissen und NSDAP-Doktrinen anzureichern, als Christian-Siegbert ins Zimmer kam und – wie er es gelernt hatte – an der Tür in Habtachtstellung stehen blieb.
»Vater, ich habe etwas mit dir zu besprechen«, sagte er.
Hauptmann Schütze blickte von der Zeitung auf. Wohlwollend glitt sein Blick über seinen ältesten Sohn. Er war groß für sein Alter, kräftig, klug, aufgeschlossen, gut erzogen und im preußischen Sinne ein ›rechter Sohn‹.
»Was gibt's?« fragte Heinrich Emanuel mild.
»Ich möchte dich um die Erlaubnis bitten, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen.«
»In – was?« Der ›Völkische Beobachter‹ fiel auf die Erde. Heinrich Emanuel Schütze starrte seinen Jungen an, als habe er ihm eröffnet, daß er die Vaterschaft Schützes nicht anerkenne. »Du bist wohl nicht ganz bei Trost, was?«
»Ich habe es mir genau überlegt. Von meiner Klasse sind vierundzwanzig bereits dabei …«
»Na und?«
»Unsere Klasse ist fünfunddreißig Jungen stark. Vierundzwanzig sind in der Hitlerjugend, vier sind Juden, drei sind Sozis, zwei Kommunisten, einer will auswandern … und dann bin ich da. Was soll ich sagen? Ich bin einfach gar nichts …«
»Das ist immer gut«, sagte Schütze hart.
»Nichts sein ist –«
»Eben nichts. Basta! Ein Rotzjunge wie du hat sich politisch nicht festzulegen. Du bist der Sohn eines
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