Manöver im Herbst
kriegerisch aus. Aber das tut der größte Feldherr im Nachthemd nicht.
»Auch im Offizierskorps geistert dieser Gedanke herum: Hitler, der Erneuerer der deutschen Macht. Aber alle, die so denken, haben ihn nicht gesehen … so nah, so unmittelbar, so nackt im Gesicht wie ich in Leipzig. Sie alle kennen die Gefahr nicht. Sie glauben Worten … was dieser Hitler an Taten mitbringt, das erkennen sie nicht. Manchmal bin ich froh, in der Divisionskleiderkammer zu sein anstatt im Truppendienst. Man könnte sich den Mund verbrennen.« Er blieb vor dem Bett stehen und sah auf die blinzelnde, müde Amelia hinab. »Man sollte Onkel Eberhard fragen. Als General weiß er doch mehr. Er kann die Lage von höherer Warte beurteilen.«
»Tu das, Heinrich.« Amelia drehte sich auf die Seite. Das ganze Geschwätz von Politik, von Nazi, Hitler, Goebbels, Hitlerjugend, Brüning, Locarno-Pakt, Versailles, das alles interessierte sie nicht. Ihre Welt war ihr Haushalt, waren die Kinder, war der sonntägliche Kirchgang, war die tiefe Gläubigkeit ihrer Seele.
General Eberhard v. Perritz antwortete knapp. Mit schriftlichen Aussagen soll man vorsichtig sein. Er schrieb:
»In der jetzigen Situation Deutschlands muß jeder seiner Überzeugung folgen. Man kann nicht raten, man kann auch nicht leiten, man kann nur sagen: Haltet die Augen offen, seid kritisch, wäget ab.
Deutschland braucht eine Zukunft … ohne sie ist ein Volk, das so fürchterlich einen Krieg verloren hat, zum endgültigen Tode verurteilt …«
Heinrich Emanuel las diesen Brief vor und sah Amelia meinungheischend an. Sie schwieg und nickte nur mehrmals.
»Das hat er schön gesagt …«
»Was?«
»Das mit der Zukunft.«
»Meint er nun Hitler oder wen?«
»Wir müssen abwarten …«
Sie warteten ab. Ein Jahr lang.
Christian-Siegbert trat nicht der Hitlerjugend bei. Aber heimlich besuchte er weiter die Heimabende. Er erkaufte sich damit das Wohlwollen seiner NS-Schulkameraden. Hauptmann Schütze ahnte nichts davon. Oder er wollte es nicht wissen.
Er stand vor einer neuen Aufgabe. General v. Schleichers Einfluß auf Politik und Reichswehr war immer stärker geworden. General v. Fritsch und General v. Blomberg waren in die Führungsstäbe gekommen … durch die Reichswehr wehte ein anderer Wind als unter dem etwas bequemen v. Hammerstein. Die nationalen Regungen wurden mehr gepflegt. Man ging aus der Reserve heraus. Man zeigte plötzlich, daß man stärker war, als es das Ausland bisher angenommen hatte.
Auch Hauptmann Schütze konnte sich der neuen Welle nicht verschließen. Er wurde von der Divisionskammer weggenommen und erhielt einen neuen Posten in der Heeresleitung.
Er wurde Referent in der Abteilung Ausrüstung, Unterabteilung Uniform und Lederzeug. Zugegeben, es war ein muffiger Verwaltungsposten, ein reiner Schreibtischkram – aber Heinrich Emanuel hatte es geschafft, in die Heeresleitung zu kommen. Er arbeitete unter den Augen der Generalität. Ob er jetzt – endlich – angenehm auffiel, war ganz allein seiner Geschicklichkeit überlassen. Seinem Wissen und seiner – noch nicht meisterhaft ausgeprägten – Fähigkeit, zu intrigieren, Kameraden anzuschwärzen, falsche Behauptungen auszustreuen und sie dann klarzustellen, als kämen sie von anderen. Er lernte von jetzt an die ganze Skala des schnellen Aufstiegs auswendig und anwenden.
Er fühlte sich wohl dabei. Er sah die Treppen vor sich, die er noch erklimmen mußte, und er war bereit, dies zu tun.
»Was andere vor mir taten, kann auch ein Schütze tun«, sagte er einmal zu Amelia. »Und überhaupt … an diesem Hitler kann man wirklich nicht vorbeigehen. Irgend etwas ist an ihm dran. Das habe ich schon 1930 in Leipzig erkannt.«
»Sie haben dich gejagt wie einen Hasen … das stimmt.«
»Sie waren gereizt. Na ja …« Heinrich Emanuel Schütze strich sich über das Gesicht. »Man kann sich dem Fortschritt nicht ganz verschließen. Man darf ihn wohl kritisch betrachten … aber man darf sich nicht überrollen lassen.«
*
Am 30. Januar 1933 war es soweit.
Hitler war nach dramatischen Wochen Reichskanzler geworden. Er hatte sogar die Billigung Hindenburgs gefunden. Heinrich Emanuel Schütze kam nach der Ernennung Hitlers mit glänzenden Augen nach Hause. Er schien außer Rand und Band zu sein.
»Was habe ich gesagt?« rief er und breitete die Arme aus, als wolle er Berlin umfangen und an sein Herz drücken. »Die neue Zeit marschiert. Papen, Hugenberg sind im Kabinett, Pourle-merite-Träger
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