Manöver im Herbst
Reichswehroffiziers und hast unpolitisch zu sein. Dein Vater ist ein Hüter des Staates … gegen alle Parteien, die eine Ordnung untergraben wollen. Er ist Soldat. Das Vornehmste, was ein Deutscher sein kann. Soldat sein heißt einen Lebensinhalt haben. Und auch du wirst eines Tages Soldat werden.« Er sah seinen Sohn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Noch eine Frage?«
»Ja.«
»Bitte.«
»Erstens bin ich kein Rotzjunge, sondern der Sohn eines Hauptmanns. Zweitens habe ich eine Meinung. Du hast immer zu mir gesagt: Wenn man eine Ansicht vertreten kann, dann muß man sie durchfechten, und wenn die Umwelt vor die Hunde geht. – Das hast du gesagt. Ich habe eine Ansicht, und die ist, daß ich in die Hitlerjugend will, weil dort die Zukunft der deutschen Jugend liegt.«
»Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?« Heinrich Emanuel sprang auf. Das ist das letzte, dachte er. Ich muß mich vor den Nazis elf Wochen lang in Schlesien verstecken und mein eigener Junge will die braune Uniform anziehen. Das ist wirklich das letzte an Geschmacklosigkeit.
»Ich dulde über diesen Punkt keine Diskussionen!« bellte er Christian-Siegbert an, der noch immer in Habtachtstellung an der Tür stand. »Es geht um Grundsätzliches, was du noch nicht verstehst. Kümmere dich um dein Latein und um die Mathematik, um Physik und chemische Formeln und um einen guten deutschen Aufsatzstil. Das ist deine Aufgabe. Die letzte Mathematikarbeit war knapp drei minus.«
»Das war nicht meine Schuld. Mein Banknachbar hat mir zweimal den Ausrechnungszettel weggenommen und versteckt. Weil ich kein Hitlerjunge bin … er ist einer.«
»Dann hättest du dich bei deinem Studienrat beschweren müssen!« schrie Hauptmann Schütze.
»Das habe ich. Aber ich bekam kein Recht. Der Studienrat ist auch Nazi.«
»Ich werde mit ihm sprechen.« Schütze trat über den auf dem Boden liegenden ›Völkischen Beobachter‹ hinweg auf Christian-Siegbert zu. »Wir müssen für das Recht kämpfen und – wenn's sein muß – fallen, mein Sohn.«
Der Junge sah seinen Vater mit großen Augen an.
»Ich muß also wieder auf eine andere Schule? Dort wird's bald genauso sein.«
»Wir lassen uns nicht unterkriegen, Siegbert.«
»Aber die anderen sind stärker, Vater.«
»Das bliebe zu beweisen.«
»Sie beweisen es ja. Oder nicht –«
Hauptmann Schütze antwortete nicht. Sein Herz zuckte. Er vermied es, seinen Jungen anzusehen. Er wurde weich, wenn er in die großen, ernsten Augen sah. Amelias Augen, dachte er immer, wenn er Christian-Siegbert ansah. Sie können einen ansehen, daß man an sich hinunterblickt und sich abtastet, um festzustellen, daß man nicht nackt dasteht.
»Du gehst nicht in diese Hitlerjugend!« sagte er laut und endgültig. »Überhaupt – was für ein dummer Name. Die Jugend gehört erst uns, den Eltern, dann dem Militär, dann dem Staat … aber niemals einem hergelaufenen Arbeitsscheuen wie diesem Hitler. Das ist ja Größenwahn … schon im Namen. Mein letztes Wort: nein.«
Er hörte hinter sich die Tür klappen. Christian-Siegbert hatte das Zimmer verlassen. Er war so erzogen, um zu wissen, daß weitere Worte sinnlos waren.
Im Bett – er las noch in einem Buch von Rémarque ›Im Westen nichts Neues‹ und erregte sich sehr über die Typenzeichnung der Offiziere und Portepeeträger – besprach er den Fall mit Amelia.
»Der Junge wird fehlgeleitet. Die Gefahr kommt in unser Haus. Der Gedanke, in die Hitlerjugend einzutreten, kommt nicht von ihm. Er ist beeinflußt oder gar gezwungen worden.«
»Das glaube ich nicht.« Amelia knipste ihre Nachttischlampe aus. Sie war müde. Einen Haushalt mit drei Kindern zu führen, ohne eine Hilfe, verbraucht die Kräfte. »Er besucht ja schon seit drei Monaten die Heimabende …«
Heinrich Emanuel zuckte hoch und saß kerzengerade im Bett. »Was tut er?«
»Er geht in die –«
»Und du wußtest das?«
»Ja.«
»Amelia!«
»Seit er das mitmacht, bekommt er keine Schläge mehr. Sonst ist er in jeder Pause von den anderen verprügelt worden.«
»Warum sagt man mir so etwas nicht?«
»Er hatte Angst. Er fühlt sich wohl in der Schule und will nicht wieder weg, weil du –«
»Weil ich –? Bin ich wieder schuld? Bin ich verantwortlich für die Politik?« Heinrich Emanuel sprang aus dem Bett. Im Nachthemd, das ihm ein wenig zu kurz geworden war, weil seine Hüften und sein Bauch einen leichten Fettansatz bekommen hatten, wanderte er im halbdunklen Zimmer hin und her. Er sah nicht sehr
Weitere Kostenlose Bücher