Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
waren, gab es auf jeden Fall Kinder. Dann stand er eines Morgens auf und verließ sie alle. Ich weiß nicht, warum. Ich habe Harold nie verstanden. Aber ich wollte diese Frau, diese Emilie, finden und die Dinge in Or d nung bringen. Ich glaube, dass sie damals hier in der N ä he gelebt hat.«
»Es gab einmal eine Emilie Devere im Dorf«, begann Raymond bedächtig. »Ja, sie arbeitete im Red Lion. Sie hatte zwei kleine Töchter … Monica und Michelle hi e ßen sie, wenn ich mich recht erinnere. Aber sie zog vor etwa zwanzig Jahren in den Süden. Einmal habe ich ta t sächlich auch den Ehemann gesehen, als er gerade da war. Ein recht korpulenter und sehr temperamentvoller Mann.«
»Das ist Harold«, sagte Field leise. »Er muss es gew e sen sein.« Er starrte auf die dunkle Straße vor ihnen.
»War er wirklich so schlecht, Ihr Bruder?«
»Als junger Mann war er ein leidenschaftlicher Spi e ler. Es hätte uns beinahe alle ruiniert. Wegen seines Ve r haltens wurde meine Schwester immer wieder krank vor Sorge, und es fällt mir schwer, ihm das zu verzeihen. Sie war ihm so treu ergeben, dass sie sogar ihren Sohn nach ihm benannte. Und zum Dank hat er sie so schlecht b e handelt. Während der ganzen Zeit, die er in England le b te – sechs lange Jahre –, wusste keiner von uns, wo er war. Aber natürlich hat ihn nichts so sehr in Hochsti m mung versetzt, als wenn Menschen um ihn weinten und er einfach so hereinschlendern und alle wieder glücklich machen konnte.« Der Butler schüttelte den Kopf. »Ich schätze, ich sollte nicht so von ihm reden. Er hat mir einmal vorgeworfen, arrogant und selbstherrlich zu sein.« Er lachte bitter auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Nun, vielleicht hatte er Recht. Diese Geschichte hat zwei Seiten, und er kann seine nicht mehr erzählen.«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Raymond.
Der Butler starrte nach vorne in die Dunkelheit. »Ge nau wie Ihr Freund ist auch er in den Krieg gezogen. Das war der Grund, warum ich an ihn denken musste.«
Ein Motorrad überholte das alte Auto, brachte die Heckscheibe zum Erzittern und verschwand kurz darauf vor ihnen in der Nacht.
»Sie haben mir nie von Ihrer Familie erzählt«, stellte Raymond noch einmal fest. »Leben irgendwelche Ve r wandten von Ihnen hier in England?«
»Nein.«
Raymond beobachtete ihn, doch der Wagen bog ger a de in die Einfahrt ein, deshalb bohrte er nicht weiter nach. Als Field aus der Garage kam, schien er völlig ve r gessen zu haben, dass er eine Frau namens Emilie oder einen Bruder und eine Schwester in einem fremden Land erwähnt hatte. Raymond hatte nicht den Mut, das Thema noch einmal anzuschneiden.
Das war das Ende. Ich saß da und starrte für lange Zeit auf die Seite, während in meinem Rücken die Sonne i m mer höher stieg. Dieser Abschnitt war mir ebenso ve r traut wie die anderen. Ich schloss die Augen, und vage Bilder dieser Menschen trieben durch meinen Kopf – der alte Mann und sein Butler, das blauäugige Mädchen und der Prinz. Ich konnte sie alle sehen, so als hätte ich sie früher einmal getroffen. Es war mehr als seltsam. Und wenn ich meine Augen zumachte und mich stärker ko n zentrierte, konnte ich beinahe erkennen, was als Nächstes geschehen würde.
Plötzlich ging die Wohnungstür auf, und Stirling rief: »Leo! Wir sind zurück!«
Ich erschrak und ließ das Buch fallen. Ich konnte sie im Wohnzimmer sprechen hören. Hastig öffnete ich die Truhe am Fenster, warf das Buch hinein und drehte mich zur Tür um.
»Was? Noch nicht mal angezogen?«, rief Stirling. »Du sol lt est dich besser beeilen. Maria war in der Kirche, und wir haben sie mit ihrer Mutter zum Essen eingeladen. Sie werden jede Minute hier sein!«
Maria und ihre Mutter klopften an die Tür, während ich noch dabei war, mir das Gesicht zu waschen, und Gro ß mutter eilig das Gemüse zerkleinerte. Ich gab Stirling ein Handzeichen, damit er noch wartete, bevor er aufmachte, aber er tat so, als würde er es nicht sehen. Ich schnappte mir ein Handtuch und trocknete das kalte Wasser auf meinem Gesicht ab, dann fuhr ich mir mit einem Kamm durch die Haare, während ich Großmutter sagen hörte: »Bitte, kommt herein. Hallo, Maria. Hallo, Anselm. Es ist schön, Sie kennen zu lernen …? «
»Mrs. Andros«, sagte Marias Mutter. Das hatte ich vorher noch nicht gewusst.
Sie war eine zierliche Frau und kleiner als Maria. Sie trug ein Kopftuch, aber ein paar Strähnen braunen Haars lugten um ihr Gesicht herum hervor;
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