Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
ich glaube, es wäre dem von Maria sehr ähnlich gewesen, wenn sie es offen getragen hätte.
Anselm fing an zu weinen, und Maria wiegte ihn in den Armen und flüsterte ihm beruhigende Laute zu.
»Gib ihn mir«, verlangte ihre Mutter.
»Es geht ihm gut«, entgegnete Maria und drehte sich von ihr weg. Aber das Baby weinte weiter.
»Setzt euch doch«, sagte Großmutter über das G e jammer hinweg. Marias Mutter nahm auf dem Sofa Platz, und Maria setzte sich mit dem Baby neben sie. Sie l ä chelte Stirling kurz an, dann warf sie mir unter gesenkten Lidern einen Blick zu, der meinen Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ. Ich eilte ins Schlafzimmer, um noch einen Stuhl zu holen. Bis dahin war ich mit einem Teil meiner Gedanken immer noch bei dem seltsamen Buch und seiner Bedeutung gewesen – damit war es jetzt vorbei.
»Er hat sehr eindrucksvoll gesprochen«, sagte Mrs. Andros gerade, als ich zurückkehrte. »Ich muss zugeben, dass er mir zuerst ein wenig jung vorgekommen ist für einen Priester, aber er macht seine Sache sehr gut.«
»Das stimmt«, bestätigte Großmutter. »Er ist ein kl u ger Mann und außerdem freundlich.«
»Sehr sogar. Er war wirklich sehr nett, als er sich uns vorgestellt hat, nicht wahr, Maria?«
»Wer?«, fragte ihre Tochter geistesabwesend. Sie ve r suchte noch immer, Anselm zu beruhigen.
»Pater Dunstan, Maria.«
»Oh … ja.«
»Er hat bemerkt, dass wir neu in der Kirche waren, und kam sofort auf uns zu, um sich mit uns zu unterha l ten«, fuhr Mrs. Andros fort. »Er gab uns das Gefühl, wil l kommen zu sein, was man heutzutage von den w e nigsten Menschen behaupten kann.« An dieser Stelle dachte ich, ihre Augen für einen Moment zu Anselm zucken zu s e hen, während Maria die Schulter wegdrehte, so als wollte sie das Baby vor dem Blick abschirmen.
»Es stimmt, dass die Menschen in diesen schwierigen Zeiten oft sehr feindselig sind«, sagte Großmutter. »Ich bin froh über die Freundlichkeit von Pater Dunstan und der Kirchengemeinde.«
Ich beobachtete, wie Maria das Baby wiegte. Irgen d wann muss sie dann angefangen haben, mich ebenfalls zu beobachten, denn unsere Blicke trafen sich durch die a n deren hindurch, und ich hörte Mrs. Andros nicht länger zu.
Nach einer Weile ging Großmutter in die Küche, um das Essen fertig zu machen, und Mrs. Andros folgte ihr. Stirling setzte sich neben Maria aufs Sofa, und sie läche l te ihn an, ohne sich zu bewegen. Er sah zu Anselm hi n unter und fragte: »Ist er eingeschlafen?«
»Fast«, antwortete Maria. Ich zog meinen Stuhl näher zum Sofa. Er kratzte über den Boden, und Anselms Lider sprangen auf. Wieder fing er laut zu weinen an.
»Entschuldigung«, murmelte ich verlegen.
»Mach dir keine Gedanken«, erwiderte Maria. »Er hä t te nicht lange geschlafen – wahrscheinlich ist er hun g rig.«
»Wir haben etwas Milch in der Küche«, bot Stirling an, offenkundig stolz darauf, dass er sich an ihr Gespräch erinnerte. »Möchtest du, dass ich ihm welche hole?« Ich ahnte, wohin das führen würde.
»Danke, Stirling«, sagte Maria. »Aber das wird Ku h milch sein, und die kann er nicht trinken. Davon würde er Bauchweh kriegen.«
»Echt? Hast du nicht gesagt, dass er Milch bekommt?«
Ich fing an zu husten. Warum landeten wir mit Maria immer bei den peinlichsten und unpassendsten Themen?
»Dein Husten ist also doch noch nicht ganz ausg e heilt?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf, und sie läche l te mich matt an.
Stirling streckte Anselm einen Finger entgegen, und er packte ihn und hörte auf zu weinen. »Er scheint dich zu mögen«, sagte Maria in die plötzliche Stille hinein, und Stirling sah erfreut aus.
»Wann wirst du ihm beibringen zu sprechen?«, wollte er wissen.
»Er wird das von selbst lernen. Aber jetzt noch nicht. Er ist erst zwei Monate alt.«
»Zwei Monate?«, wiederholte Stirling. »Das ist aber jung.« Er starrte das Baby an. »Es ist erst zwei Monate her, seit er geboren wurde?« Seine Stimme klang u n gläubig.
Maria lachte. »Ja. Warum bist du so überrascht?«
»Ich dachte, er wäre schon länger am Leben. Kom i sche Vorstellung, dass er vor zwei Monaten noch gar nicht da war.«
»Es ist wirklich noch nicht lange her.«
»Also ist sein Geburtstag im April?«, fragte Stirling.
»Am zweiundzwanzigsten April.«
»Wie kannst du dir das merken?«
»Das werde ich so schnell nicht vergessen«, sagte M a ria. »Immerhin ist es ein wichtiger Tag.«
»Ich vergesse immer, wann ich Geburtstag
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