Mansfield Park
wohl kaum einen Menschen in Mansfield, der nicht nach seiner persönlichen Beobachtung Toms Zustand hätte besser schildern können als seine Mutter, und keinen, der so wenig für ihn tat wie sie. Sie vermochte nichts für ihn, als still in sein Zimmer zu schlüpfen und ihn anzusehen. Doch sobald er nur fähig war, zu sprechen und zuzuhören oder sich vorlesen zu lassen, zog er Edmunds Gesellschaft jeder anderen vor. Seine Tante enervierte ihn durch ihr Getue, und Sir Thomas verstand weder seine Gesprächsthemen noch seine Stimme der Reizbarkeit und Schwäche eines Kranken anzupassen. Edmund bedeutete ihm jetzt alles. Fanny wenigstens war davon überzeugt und mußte sich gestehen, daß sie ihn höher denn je schätzte, wenn sie an ihn als Helfer, Krankenwärter und Gesellschafter eines leidenden Bruders dachte. Tom war ja nicht nur durch die eben überstandene Krankheit körperlich geschwächt; es galt auch, wie sie jetzt erfuhr, seine schwer angegriffenen Nerven zu beruhigen, seine tief bedrückte Stimmung zu heben und – wie sie aus eigener Erkenntnis für sich hinzufügte – seinen schwachen Charakter richtig anzuleiten.
Die Familie war nicht schwindsüchtig, und sie hegte für ihren Cousin eher Hoffnung als Angst – außer wenn sie an Miss Crawford dachte; denn Miss Crawford erschien ihr als ein ausgesprochenes Glückskind, und vom Standpunkt ihrer Selbstsucht und Eitelkeit betrachtet, wäre es für sie natürlich das größte Glück, wenn Edmund mit einemmal zum einzigen Sohn avancierte.
Nicht einmal im Krankenzimmer wurde diese glückliche Mary vergessen! Edmunds Brief trug die Nachschrift: «Was den Gegenstand meines letzten Schreibens betrifft – ich hatte tatsächlich schon begonnen, einen Brief zu verfassen, als Toms Erkrankung mich wegrief, aber inzwischen habe ich es mir anders überlegt. Ich fürchte den Einfluß ihrer Freunde. Sobald es Tom besser geht, werde ich hinfahren.»
So standen die Dinge in Mansfield, und bis Ostern gab es keine nennenswerte Veränderung. Ein paar Worte, die Edmund gelegentlich einem Brief seiner Mutter beifügte, genügten, um Fanny ins Bild zu setzen. Toms Zustand besserte sich beängstigend langsam.
Das Osterfest kam – und dieses Jahr fiel es ganz besonders spät, wie Fanny kummervoll festgestellt hatte, als sie zum erstenmal erfuhr, daß keine Aussicht bestand, noch vorher von Portsmouth wegzukommen. Es kam, und sie hatte noch nichts bezüglich ihrer Rückkehr vernommen, ja nicht einmal die Reise nach London wurde erwähnt, die ihrer Rückkehr vorausgehen sollte. Ihre Tante gab oft der Sehnsucht nach ihr Ausdruck, doch von dem Onkel, von dem alles abhing, kam keine Nachricht, keine Botschaft. Er konnte wohl seinen Sohn noch nicht verlassen, doch für sie war diese Verzögerung etwas Schreckliches. Der April ging seinem Ende zu. Bald würden es nicht nur zwei, sondern beinahe drei Monate sein, daß sie in der Ferne weilte, und jeder einzelne Tag erschien ihr als Strafe – sie hoffte nur, die Menschen, die sie so innig liebte, würden niemals erfahren, wie schwer es für sie war. Und noch immer war es nicht abzusehen, wann man Zeit finden würde, an sie zu denken oder sie abzuholen …
Ihre Unruhe, ihre sehnsüchtige Ungeduld wieder bei ihnen zu sein, waren so groß, daß sie stets an eine bestimmte Zeile aus «Tirocinium» von Cowper denken mußte; ständig lagen ihr die Worte auf der Zunge: «Mit welch unendlicher Sehnsucht begehrt sie nach Hause zurück!» Sie erschienen ihr als die treffendste Beschreibung des Heimwehs, wie es wohl auch das Herz eines Schuljungen nicht heftiger empfinden konnte.
Als sie nach Portsmouth reisen sollte, hatte sie es gern ihr Zuhause genannt, es hatte ihr Freude gemacht, zu sagen, daß sie «nach Hause» fuhr. Das Wort war ihr lieb und wert gewesen – und war es noch immer, nur bezeichnete es jetzt Mansfield. Hier war sie nicht zu Hause. Portsmouth war Portsmouth, aber zu Hause – das war Mansfield. Diese Rangordnung stand längst fest, wenn sie sich erlaubte, ihren heimlichsten Gedanken zu frönen, und nichts war ihr tröstlicher, als zu entdecken, daß ihre Tante den gleichen Ausdruck gebrauchte. «Ich kann nicht sagen, wie sehr ich es bedaure, daß Du in dieser traurigen Zeit, die für meine Stimmung so bedrückend ist, nicht zu Hause bist.» – «Ich hoffe und wünsche innig, daß Du nie wieder so lange von zu Hause abwesend sein wirst.» – Das waren Sätze, die ihr köstlich klangen, wenn sie sich auch nur heimlich
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