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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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sein sollte. Das aber war nicht ihr Problem.
    Sie hatte zehn Minuten, um sich in ihrem Zimmer einzurichten – einem würfelförmigen Raum, der einem Progammiererschuppen aus den Neunzigerjahren mit einem Bett statt einem Schreibtisch keine Schande bereitet hätte, aber alle modernen Steuersysteme besaß, einschließlich eines Arbeitsplatzrechners und eines Wandschirms; es gab sogar fließendes Wasser. Sie brauchte fünf Minuten, die Nostalgie niederzuzwingen, die sie befiel, als sie ihre Koffer auspackte und Kleidungsstücke sah, die sie in aller Unschuld eingepackt hatte, als Dan noch lebte und ihr Bewusstsein noch ihr Eigentum gewesen war. Natalie drückte das Gesicht in den Stoff, und einen Augenblick roch ihre Wohnkabine nach zu Hause.
    Sie war gerade damit beschäftigt, an einem T-Shirt aus Jersey die Streckgrenze der Fäden zu untersuchen, als ihr Wecker ihr mitteilte, dass es an der Zeit sei, ihre Arbeitskollegen kennen zu lernen. In Gedanken noch immer beim Gradienten der Scherspannung in den Fasern, der beim maschinellen Stricken entstanden war, stolperte sie fast über die eigenen Füße. Sie musste sich schütteln wie ein Hund, um halbwegs in die Normalität zurückzufinden, und stellte verspätet fest, dass sie den Übergang vom gewöhnlichen Denken zu dieser sonderbaren, vollständigen Versunkenheit in einen Aspekt, den sie zuvor noch nie wahrgenommen hatte (und auch nicht hätte wahrnehmen können), weder bemerkt hatte noch sich an ihn zu erinnern vermochte.
    Als sie die anderen erblickte und ihnen die Hände schüttelte, schien das neue Talent sich festgefahren zu haben.
    Ihr Vater war der Erste, der sie begrüßte; er umarmte sie steif und schien verlegen zu sein, dass man ihn beobachtete, wie er ihr Zuneigung zeigte, doch er war aufrichtig erfreut, sie gesund wiederzusehen. Als er sie fest an sich drückte und ihr in die Augen blickte, sah sie deutlich einen Jungen vor sich, der in einer riesigen Mauer aus Fels gefangen saß, die ihm gerade genug Raum ließ, dass er existieren und ganz flach atmen konnte. Ihr war noch immer schwindlig von diesem Eindruck, als sie Nikolai Kropotkin die Hand schüttelte, dem russischen Psychologen, dessen Namen sie nur aus angesehenen Fachzeitschriften kannte.
    Er war älter als ihr Vater; ein Mann mit freundlichem, ein wenig schalkhaftem Gesicht. Sein Händedruck indes war voller Unruhe, und Natalie bemerkte, dass er mehr an ihrem Zustand interessiert war als an ihr. Sie dachte an eine Reihe von Insekten in Bernstein, der zu juwelengleichem Glanz poliert war, und in diesem Glanz spiegelten sich Kropotkins Augen in einem Linsenkaleidoskop; sie war die Mücke, er der Entdecker.
    Isidore Goldfarb, der Programmierer, war ein Schock für sie. Dass er am Asperger-Syndrom litt, erkannte sie sofort am typisch starren Blickkontakt und seiner konstanten Aufmerksamkeit. Seine Handmuskeln verrieten Natalies Nervensystem, wie er es empfand, solch eine kühne und absonderliche Geste zu machen – er musste gegen seinen Instinkt ankämpfen, der ihm zurief, es bleiben zu lassen, während er eine Reihe von Routinebewegungen und -worten abarbeitete, die für ihn letztendlich genauso bedeutungslos blieben wie Programmcodes für Maschinen. Unter der Oberfläche jedoch war er hellwach: ein Fuchs, der sich in seinen abgeschiedenen, dunklen Bau verkrochen hatte und die Welt durch Schattenschleier beobachtete – durch diese Nebel konnte Natalie sich selbst betrachten. Ihre Hyper-Wachsamkeit brannte aus ihrem starren Blick, und die Berührung ihrer Hand war aufdringlich warm, während sie in einem Rhythmus zuckte, der ihn ängstigte, weil er ihn nicht begriff. Goldfarb erkannte sie als Leidensgenossin, als Kuriosum, als zerbrochene Trommel.
    Alicia Khan bestand aus einem ebenholzschwarzen Schimmer mit der Geschmeidigkeit einer Katze und verschlagener Anmut. Wie Natalie sie wahrnahm, erschien sie fast als eine Halluzination von Symbolcharakter, die alles, was Natalie über sie wissen musste, auf einige wenige Bilder reduzierte: Ein Mädchen (Alicia in der Vergangenheit) sitzt allein in einem Zimmer und lernt im Licht einer Kerze, deren Wachs beinahe weggebrannt ist. Wenn es ganz verbraucht ist, erhebt sich die Seele des Mädchens mit dem Rauch. Dann ist ihr Leben vorbei.
    Doch Natalie blieb nicht viel Zeit, diese bizarre neue Sehfähigkeit zu bemerken, denn nun stand Lucy Desanto vor ihr, ergriff ihre Hand und hielt sie in einer Vision gefangen, die viel erschreckender war als die von Khan.

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