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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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sind sie mit drei Jahren so scheu und verquer, denn dann haben sie begriffen, dass andere Leute tatsächlich das Ende ihrer Existenz bewirken könnten.
    Und das geht gerade in Ihrem Sohn vor. Das ist alles. Also machen Sie sich keine Gedanken, er kommt darüber hinweg. Er wird sein Leben ganz normal verbringen, er wird Ihnen keine Schande machen, er wird keinen Vertreter zusammenbrüllen, der bei ihm klingelt, und er wird weder den ersten noch den letzten Keks aus der Schale nehmen. Genau wie wir alle. Er wird normal sein. Und das kann gut oder schlecht sein, je nachdem, wie der Rest Ihrer Familie drauf ist.«
    Natalie zeichnete eine Reihe von Schafen, die immer kleiner wurden, bis das letzte nur noch ein Punkt war, der unter dem Gewicht einer fetten Frau mit Nobelfrisur und selbstgefälligem Grinsen zerquetscht wurde. Ein kleines Flugzeug kreiste über ihr und setzte zur Landung auf ihrem Bauch an.
    Hatte sie das jetzt doch tatsächlich laut ausgesprochen?
    Natalie setzte sich erschrocken auf. Nun erst bemerkte sie, wie still es am anderen Ende der Leitung geworden war.
    Hatte sie das wirklich laut gesagt? Scheiße. Nicht zu fassen. Ihr Herz pochte wie ein Vorschlaghammer. Das war alles auf Band. Dafür konnte man sie an die Luft setzen – es konnte sogar in die Zeitung kommen. Sie war müde, aber das war keine Entschuldigung. Sollte sie in einer Kurzschlafphase ihre Ausbildung vergessen und das wirklich gesagt haben?
    »Nun, wenn Sie es für normal halten …«, sagte die Frau sehr zögernd. »Wie Sie meinen.« Sie legte auf.
    Auch Natalie legte auf, ließ die Hand auf dem Hörer und drückte ihn fest auf die Gabel. Sie schlug die Stirn einmal auf die harte Schreibtischplatte, holte tief Luft, dachte: Ein tiefer Atemzug ist ein reinigender Atemzug, bleib wach, du blöde Kuh, und nahm den nächsten Anruf in der Warteschlange entgegen. Sobald er erledigt war, würde sie sich auf jeden Fall erst noch einen Kaffee holen müssen. Oder sollte sie lieber einen kleinen Eingriff vornehmen, damit ihr Mundwerk nicht wieder mit ihr durchging? Mit dem Handrücken erstickte sie ein tiefes Gähnen.
    »Ich hätte gern Doktor Natalie Armstrong gesprochen«, sagte ein Mann mit breitem amerikanischem Akzent.
    Er klang klar und auffallend gelassen, doch verbargen sich in seiner Stimme auch Beklemmung und Unruhe; die Anspannung eines Geistes, der solch starkem Druck ausgesetzt war, dass Natalie glaubte, sie könnte das Knirschen hören, das eine Implosion unmittelbar ankündigt.
    Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Die Stimme hatte ihren Namen genannt. Das Sorgentelefon war in beiden Richtungen anonym, um Vertraulichkeit und Sicherheit der Gesprächspartner zu gewährleisten. Am Sorgentelefon gab man sich Decknamen, um Leuten zu entgehen, die sich chronisch auf Ansprechpartner fixierten. Wie kam der Mann dazu, namentlich nach ihr zu fragen? Vielleicht war er ein ehemaliger Patient. Vielleicht steckte aber auch noch mehr dahinter.
    Natalie schob die Hand näher an den Notknopf, mit dem man die Polizei darum bat, den Anruf zurückzuverfolgen. Während sie die Hand noch zögernd über dem Knopf schweben ließ, sagte sie: »Natalie hat heute frei. Kann ich Ihnen helfen?«
    »Oh.«
    Enttäuschung.
    In der Gesprächspause schweiften Natalies Gedanken ab. Sie fragte sich, ob Dan, mit dem sie die Wohnung teilte, schon wieder die Mikrowellen-Nudeln allein gefuttert und die Miete verprasst hätte, indem er einen seiner Freunde in den Pub ausführte. Vielleicht aber blitzte die Küche auch wie ein neues Messer, und er hatte daran gedacht, aus Rücksicht auf die Leute, die unter ihnen wohnten, die Dusche nicht voll aufzudrehen. Warum sollte sie nicht auch einmal fantasieren dürfen wie die anderen Verrückten?
    »Mit wem spreche ich, bitte?« Der Amerikaner war kühl und geschäftsmäßig geworden.
    »Hier ist Jennifer«, antwortete Natalie und wartete.
    Das Warten war am schlimmsten. Nicht zu wissen, ob sie als Nächstes einen unvermittelten Schrei hören würde, ein Wimmern, eine Kanonade von Beleidigungen, unverhohlene sexuelle Gelüste oder in allen Einzelheiten geschilderte Verstümmlungen, die in einem entsetzlichen Tod gipfelten – ihrem, dem des Anrufers oder eines Dritten. Oder Angstfantasien. Oder, was am häufigsten vorkam, Verzweiflung.
    Das Schweigen, bevor es ernst wurde, jagte ihr jedes Mal eine Heidenangst ein, die Furcht, der Anrufer am anderen Ende wäre ein bösartiges und tödliches, alle Vorstellungskraft

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