Mappa Mundi
übersteigendes Ungeheuer, das mit der glatten Mühelosigkeit einer Schlange über die Digitalleitung zu ihr gelangen sind sie allein durch die zwingende Kraft seiner Gedanken und das leise, monotone Geräusch seines Atems töten könnte.
»Nun, ich muss Dr. Armstrong aus einem sehr dringenden beruflichen Anlass sprechen, und ich bin nur kurz in England. Tut mir Leid, dass ich Sie auf der kostenlosen Leitung anrufe. Ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Wenn Sie meinen Namen und meine Telefonnummer weitergeben könnten, wäre ich sehr dankbar. Mein Name ist Jude Westhorpe, und ich bin Special Sciences Agent bei der wissenschaftlichen Sonderabteilung des FBI.«
Aber klar doch, dachte Natalie, erleichtert, dass er an diesem Abend noch nicht damit herausplatzen würde. Sie nahm ihren Stift und malte neue Kritzelmännchen. Bloß ein Spintisierer. Klang relativ harmlos. Begeisterte sich wahrscheinlich für polizeiliche Vorgehensweisen, Kornkreise und Außerirdische. Vielleicht war er sogar ganz unterhaltsam, aber sie musste versuchen, ihn aus der Leitung zu bekommen, denn der Nächste in der Warteschlange konnte schon an der Kante eines Hochhausdaches stehen.
Sie zeichnete einen Cowboyhut.
»Schreiben Sie es auf, oder wird das Gespräch aufgezeichnet?«
»Oh, es wird aufgezeichnet«, antwortete sie mit ihrer wärmsten, beruhigendsten Psychologenstimme. »Eine Woche lang bewahren wir die Aufnahmen auf, dann werden sie nach Überprüfung gelöscht. Aber ich schreibe mit. Schießen Sie los.«
»Meine Privatnummer«, kündigte er an, und als sein Pad sendete, flitzte Natalie eine rasche Folge von Tönen ins Ohr.
Die Ziffern schrieb sie automatisch von Hand mit, wie sie es als Studentin bei ihrem Job in der Nachtschicht der Notrufzentrale gelernt hatte. Die Gewohnheit war nur schwer abzulegen, und sie verdarb sich das hübsche Hutband und die Feder, die sie farbig ausgemalt hatte. Zwar runzelte sie die Stirn, machte aber höflich interessiert: »Hm-hm.«
»Und ich wohne im hiesigen Hilton.« Er zögerte.
Sie glaubte, dass er nun abwartete, ob sie seine Geschichte schluckte oder Anstalten machte, ihn zu zwingen, Farbe zu bekennen. Klassische Fantasterei, dachte sie. Fast wie der alte Mann, der mich grundsätzlich Miss Moneypenny nennt. Nach dem, womit man mich heute schon erfreut hat, ist das doch wirklich gut.
Natalie beschloss, ihm seinen Traum zu lassen. Soweit sie beurteilen konnte, tat er niemandem damit weh. Wahrscheinlich wohnte er noch bei seiner alternden Mutter und verließ das Haus nur, um sich auf dem Sozialamt zu melden und dem zuständigen Beamten seine andauernde Existenz persönlich unter Beweis zu stellen.
Der Cowboy bekam zwei Punkte und eine kurze gerade Linie als Augen und Mund.
»Wann können Sie meine Mitteilung weiterleiten?«
»Ich mache es gleich«, sagte Natalie. Sie musste seine Folgerichtigkeit bewundern. Langsam radierte sie die Ziffern mit dem Gummi an ihrem Bleistift wieder aus und ersetzte den Hut durch eine schwarze Krähe, die behäbig über eine gewundene, hingekritzelte Landschaft flog – Jude Westhorpe. Was für ein Name! Provinzieller ging’s nicht. Der Name klang nach Inzest, brennenden Scheunen und der zermürbenden Liebe zur Schinderei.
»Können Sie mir eine offizielle Büronummer geben, falls ich noch einmal anrufen muss?«
Sicherer Boden unter den Füßen – er hatte Mühe, noch weitere Entschuldigungen zu finden, um in der Leitung zu bleiben.
»Tut mir Leid, aber wir dürfen keine …«
»Okay, okay. Geben Sie bitte nur meine Nummer so schnell wie möglich weiter, Jennifer. Und vielen Dank. Sie leisten großartige Arbeit.«
Er legte auf.
Natalie hörte das Klicken mit einer milden Überraschung. Für einen Träumer handelte der Mann wirklich erstaunlich folgerichtig. Er musste sich völlig in seine Rolle hineinsteigern. Er hatte den passenden Akzent – obwohl er natürlich auch ein echter Amerikaner sein konnte, warum sollten sie nicht genauso verrückt sein wie alle anderen? Er klang professionell und war sehr höflich. Mit seinem Kompliment zuletzt und der persönlichen Anrede übte er nur sanften Druck aus, und es gelang ihm sogar, es so klingen zu lassen, als meinte er es aufrichtig. Kein Anzeichen, dass er während des Gesprächs masturbierte. Nett. Sie hätte sich fast freuen können, wieder einmal von ihm zu hören.
»Ich leiste grr-oußarr-tige Arr-beit!«, teilte sie ihrem Schreibtisch und den Wänden mit, indem sie versuchte, seinen
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