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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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musste nur ein paar Stunden totschlagen.
     
    Natalie fand ein zu luftiges Kostüm, einen zu mädchenhaften Rock und eine Bluse, in der sie einfach zu sehr nach Sekretärin aussah, darum zog sie sich eine Hose-Hemd-Kombi aus schwarzem Leder an, dazu Stiefel mit mittelhohen Absätzen, damit sie notfalls rennen konnte, und eine Jacke, die ungefähr die gleiche Farbe hatte wie ihr Haar. Die Disk mit dem gestohlenen Programm wanderte in die Innentasche, das Pad in die äußere. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und trug neuen, zwei Töne dunkleren Lippenstift auf.
    Doch fünf Minuten, bevor sie gehen musste, kam Natalie ihr Vorhaben plötzlich sehr riskant vor. Als Vorsichtsmaßnahme gab sie eine Nachricht an Erewhon, ihren persönlichen Datapilot-Service, und hinterließ für den Notfall eine nicht allgemein zugängliche Nachricht über ihren Aufenthalt. Es war schwierig, eine sichere Leitung zu bekommen, und als sie endlich an Dan vorbeihuschte, der gerade im Badezimmer war, hatte sie sich schon verspätet. Als sie schließlich die Tür hinter sich zuziehen wollte, regnete es nicht mehr. Von Fluss wehte schwere, extrem feuchte Luft herüber, und ein leichter Geruch nach modernden Pflanzen. An diesem Abend wollte sie dort nicht entlanggehen und sagte sich, dass belebtere Straßen besser wären, deshalb folgte sie der Straße Richtung Stadt in zügigem Tempo.
    Die Bäume, die ihre Äste über die Fulford Road streckten, tröpfelten Natalie nass, während sie darunter hindurchging, und einmal glitt sie auf nassem Laub aus, doch weder verlangsamte sie ihren Schritt, noch änderte sie die Richtung. Natalie marschierte an der ersten Ladenzeile vorbei, dann bog sie in einen Weg ein, der zum Fishergate und der Stadt hinter den Mauern führte.
    Jude Westhorpe holte sie auf dem dunkelsten Teil des Weges vor einer Kirche ein, die in ihrem dicht gepackten Nest aus Grabsteinen saß. Dort hingen die Äste gewaltiger alter Bäume über den Pflastersteinen, schirmten das Straßenlicht ab und hüllten beide in einen Kokon aus dunklen Schatten. Natalie konnte sich eines Schauders der Furcht und Erregung nicht erwehren.
    Jude trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Zu ihrer Überraschung sagte er kein Wort, sondern beugte sich nieder und küsste sie auf ihren staunend offen stehenden Mund.
    »Wir sind schließlich verabredet, oder?«, murmelte er in jener undeutlichen amerikanischen Aussprache, und Natalie begriff, dass er sie nicht ernsthaft, sondern nur zur Tarnung küsste, für die Augen eines etwaigen Beobachters. Ihre unerwarteten Gefühle versanken so rasch, dass ihr übel wurde.
    »Äh … ja, ja.« Sie zitterte. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, er bestände tatsächlich aus Fleisch gewordenen Schatten. Es hatte so zauberhaft, so wunderbar ausgesehen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, die verräterische Regung auszulöschen, bevor er sie in ihren Augen entdeckte – du Närrin, du blöde Kuh, fuhr sie sich innerlich an. Es half nichts, die Enttäuschung schnitt ihr ins Herz.
    Einst hatte sie an solche Dinge geglaubt und sich für ein Mädchen mit einer Bestimmung gehalten, für jemand Besonderen. So fest war sie ihrer Einbildung verhaftet gewesen, dass sie ihr Leben dem Bemühen widmete, die Wahrheit über die Welt der menschlichen Beweggründe zu enträtseln. Trotzdem gab es keinen Grund, sich ihre Lage nicht zunutze zu machen. Natalie besaß durchaus genügend Selbstwertgefühl, dass sie wusste, wie man sich ein paar angenehme Stunden macht, auch wenn ihr versagt bleiben sollte, was ihre Fantasie sich ersehnte.
    Unter den dunklen Händen der Bäume am Fishergate nahm Natalie zum zweiten Mal Judes Gesicht in die Hände, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, wie sie es sich schon bei der ersten Begegnung gewünscht hatte; sie küsste die Dunkelheit, die an jenem weit zurückliegenden Tag nicht gekommen war; sie hieß sie wie einen lange verlorenen Freund willkommen, trotz allem, was sie versprochen hatte.

 
5
     
     
    Dan ging fünfzig Meter hinter Natalie und sah nicht das Geringste. Er wich zwei Jungen auf einem Fahrrad aus – der eine saß auf dem Gepäckträger, die Hände in einem regelrechten Würgegriff um den Hals des vorderen Kindes gelegt, das so langsam in die Pedale trat, dass das Rad beinah umkippte. Natalie war in den dunkelsten Teil der Straße getreten, als wäre sie eine Verrückte, die den ansässigen Vergewaltiger auffordert, doch bitte zuzuschlagen, und der

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