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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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und schreiend vulgär, und wie eine goldene Injektionsnadel dringt der Sonnenstrahl in den frohlockenden Corpus der Welt, gleichzeitig Opium und Koffein spendend allem, was Gewebe und Körper ist. Welch ein Abenteuer! – denke ich. Und ziehe die Vorhänge noch dichter zusammen.
    KASCHAU
    Auf dem Tisch fand ich ein Büchlein mit dem Titel »Kaschau«. Fotos und ein paar nüchterne Begleitzeilen stellen darin die »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt« vor.
    Dieses Bändchen hat mich verwirrt und aufgewühlt. Die »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt« beschäftigt auch mich, sogar ohne Fotos, am Tag und im Traum, unentwegt. Etwas quält und ruft immer in mir, wenn ich an Kaschau denke. Es schreit: »Gebt es zurück. Gebt mir das Haus wieder, in dem ich geboren, und das andere, wo ich aufgewachsen bin, gebt mir meine Gräber zurück, die Erinnerungen, die Fenster und Torbögen meiner Kindheit, gebt die Wiese und das Leutschauer Haus, das Nordportal und den ganzen Dom mit dem Rákóczi-Grab zurück, sonst ist alles sinnlos für mich. Ich will es zurück, weil es mir gehört, weil der Verlust nicht zu verwinden ist. Gebt es zurück, sonst halte ich alles für möglich, auch die Wut der Verzweiflung. Dort will ich sterben, wo die Stadt beginnt, wo in der Grube unter den Hügeln meine Toten liegen, wo in den Zimmern auch meine Erinnerungen ruhen. Gebt sie zurück, solange es noch Zeit ist.« So schreit es tief drinnen in mir, tief jenseits der Vernunft, am Tag und in der Nacht.
    Deshalb wirkt dieses Büchlein, das die Sehenswürdigkeiten wie die wichtigen »literarischen, musikalischen und gesellschaftlichen Aktivitäten« der Stadt sachlich, leidenschaftslos aufzählt, so sonderbar auf mich. Mir ist, als würde man von einer Wunde, an der ein Mensch verblutet ist, einen Leichenschaubericht anfertigen.
    DAS STIMMEN
    Am Morgen, noch halb im Schlaf, vernehme ich durchs geöffnete Fenster, wie draußen in der Welt die Instrumente gestimmt werden. Es sind kleine Töne, ein Piepsen, das heisere Gicksen einer Flöte, das verzückte Krächzen einer Metallseite. Jemand spielt auf diesen Instrumenten, zerstreut und beiläufig, mit einem Finger. Oh, sie fangen schon an, denke ich beglückt im Halbschlaf. Sie stimmen bereits.
    EINSCHLAFEN
    Seit ein paar Jahren schlafe ich immer auf eine Weise ein, als wollte ich schon ein klein wenig das Gestorbensein probieren, passe Kopf und Glieder einem anderen Schlafzustand an, bemühe mich, den Leib in eine eher endgültige Lage zu betten und im Halbschlaf von der Empfindung, der Ruhe des tieferen Schlafes zu naschen. Um die vierzig beginnt der Mensch zu üben; erst nur mit einem Finger, wie der Anfänger das Klavierspielen.

APRIL
    Ich bin im April geboren. Der Himmel, den ich zum ersten Mal sah, war windig, abwechselnd von gleißender Helle und schummrig gedämpft; in hektischen Wellen zogen Wolken, Nebelfetzen und die Sonne über ihn hin, als spielte irgendwo eine umnachtete Frau mit offenen Haaren die Harfe. Manchmal höre ich ihr Spiel noch im Traum. Nach dem Nürnberger Traumbuch sollen Menschen, die in diesem Monat geboren werden, getrieben, in Geschäften glücklos, empfindsam und ungeschickt sein. Und weiter heißt es, dass sie einst eines gewaltsamen Todes sterben, durch Feuer oder Wasser. Die Menschen halten uns Aprilkinder für ein bisschen verrückt. Doch bin ich schon gefährlicheren Narren begegnet, die im August oder Dezember zur Welt gekommen sind. Widersprechen möchte ich der gängigen Meinung dennoch nicht.
    Sicher haben wir Aprilgeborenen etwas Wetterwendisches, Gehetztes, auch eine Spur von Besessenheit. Sind so eine Art gezähmte Amokläufer. Dieser Himmel, das Aprilwetter dämmert in unseren Nerven mit seinen erquickenden Schauern, der grünen Aufgeregtheit, seinem unreifen und ausgelassenen, schreiend bunten, lauten Aufgalopp. Der April ist der Monat der Radieschen, der jungen Zwiebeln, wie der Juli der Rosenmonat und der Dezember die Zeit der literarischen Lesungen ist. Auch die Radieschen haben ihre Dichtung und ihren Feiertag. Diese paar Tage Anfang April, sie gehören ihnen. Ich kam mit den Radieschen, den Zwiebeln und dem frischen Salat auf die Welt, behutsam und delikat nach Art der Primeurs*. Am Tag meiner Geburt war Nationalfeiertag, man gedachte der Sanktionierung unserer Gesetze. An diesem Tag brauchten wir nie zur Schule zu gehen, und ich habe es irgendwie für selbstverständlich gehalten, dass die Welt mein Dasein auf diese Weise zur

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