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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Felsgipfel. Ein Fahrgast, die junge Frau im gehäkelten Jäckchen, blond und vornehm, eine Aktenmappe unterm Arm, erhob sich jetzt, stieg aus. Sie stand zwischen den Felsen, menschliche Behausungen waren dort weit und breit nicht auszumachen, und die junge Frau schritt aus auf dem kahlen Hochplateau, mit leichten, eleganten Schritten, die Aktenmappe in der Hand, als wäre sie bloß irrtümlich in Fiume gewesen, denn ihr eigentliches Zuhause sind diese kahle Welt, Felsen, das Morgenlicht und der Sturm. Sie schaute sich nicht um. Gott mit dir, dachte ich, Gott mit dir, du Liebe, du Großartige, du Unbegreifliche.
    VATERLAND
    »Vaterland«, lieb’ ich dich? Mir hat das Schicksal solches Empfinden nicht einfach in die Wiege gelegt. Wie beneide ich sie, die es routinemäßig oder in unüberlegter Beflissenheit mit flotter Lippe gestehen können! Ich wage nur so über dich nachzusinnen, nach Mitternacht, allein in meiner Stube, in dieser furchtbaren Werkstatt, in der ich an den Wörtern feile, sie prüfe und auf ihren Wert abklopfe. Wie schön für die mit schneller Zunge, für die Glücklichen, die dich, Vaterland, in Leitartikeln und gefälligen, enthusiastisch tönenden Gedichten feiern können! Ich aber habe dieses Wort jetzt zum ersten Mal so barsch und in so verhängnisvoll einfacher Form hingeschrieben, mit starrer Hand und bleich beuge ich mich darüber, lausche seinem Klang, mustere die Lettern, schmecke seinen Sinn, diese furchteinflößende und schicksalhafte Bedeutung: Vaterland, man lebt und stirbt für dich, und nur Hohlköpfe und Schamlose können es »lieben« oder »nicht lieben«. Zwei hehre Begriffe, Vater und Land, Ehre, Verpflichtung und Quelle der Kraft. Weil du tödliche Kraft bist, Kraft, die nicht loslässt. Alles bist du, alles birgst du in dir. Ich kapituliere.
    DAS ERWACHEN
    In den Augenblicken des Erwachens schwingt in der großstädtischen Morgenfrühe die kindliche Erinnerung mit: Hinter den geschlossenen Rollläden bimmelt die Straßenbahn, hupen Automobile, reden und hasten fremde Menschen zu ihren unglaublich interessanten, sinnvollen und großzügigen Hauptstadtbüros und Arbeitsplätzen, wo sie mit aufregend einträglichen und wichtigen Tätigkeiten ihren Tag verbringen – in solchen Augenblicken erwacht in mir stets der Knabe aus der Provinz, den sein Vater einmal nach Pest brachte und der am Morgen im dämmrigen Hotelzimmer vom Quietschen einer Straßenbahn geweckt wurde, der sich zugleich gefürchtet und mit Herzklopfen gefreut hat, als wäre er in eine Wunderwelt geraten, in der alles auf Knopfdruck funktioniert und wo man nur auf den Klingelknopf zu drücken braucht, und schon bringt der Kellner das großartige Hauptstadtfrühstück auf dem Silbertablett, Obst, Kaffee, Schinken und das Leben.
    SHAKESPEARE, DER VOLKSTÜMLICHE
    Eigentlich bevorzuge ich die volkstümlichen englischen Shakespeare-Ausgaben, die mit den farbigen Beilagen, die wie naive Bilder aus einem Märchenbuch anmuten, mit Heldenidolen und scheußlich verunstalteten Hexen mit langen Nasen, vierohrigen Riesen, kleinen, forschen Däumlingen: Das ist das Wahre, denn Shakespeare bedeutet auch Märchen und auch volkstümlich, etwas ganz Einfaches und Ewiges, voll Blut und Erhabenheit. Solche Illustration verträgt nur das Volksmärchen und nur das Werk eines Genies. Die ganz großen Dinge sind immer auch ein wenig kitschig, volkstümlich. Das gilt auch für Cervantes. Und Werther ist so. Und natürlich Shakespeare.
    SCHAUKEL
    Und doch ist in dem Ganzen irgendeine geheimnisvolle, unerklärliche Balance. Manchmal glaubst du fast, du kippst, mit solcher Kraft schleudert es dich hoch und lässt dich in die Tiefe fallen – und dieses tödliche Schwingen ist dennoch gewollt, wundervolle Gesetze schützen dich, du bist lebendes Schaubild einer geometrischen Formel … Eine Schaukel. Irgendetwas sichert, hält das Ganze.
    »LIEBE MICH!«
    Wie oft im Leben haben wir das Flehen, den Befehl, diesen verzweifelten Ausruf gehört, als käme er von der Schwelle des Todes, als hätte man ihn aus den Gruben der Schande und des Verderbens zum Himmel hinaufgeschrien. »Liebe mich!« Als verweigere jemand aus Missgunst oder in bösartiger Absicht einer sich verzehrenden Seele irgendein Almosen, als hätten wir wirklich die Macht, wollten diese aber nicht einsetzen, als hinge es von irgendeiner Überlegung oder einem Entschluss ab, dass wir jemanden lieben. »Liebe mich!« Als bettelte ein Verdammter: »Rette mich!« Als schrie ein

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