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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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bernsteingelbem Wein. Man konnte hören, wie die festfleischigen Weichseln in den Bäumen zu reifen begannen.
    Der eine trug eine Rose in der Hand, der andere klammerte sich an den Arm einer Frau, ein Dritter sah zum Himmel auf, als sähe er ihn zum ersten Mal. Wir gingen über die gemähte Wiese, in diesem dichten, sinnlichen Duft, wateten durch die Wolke des frisch gemähten Heus. Oben auf dem Hügel empfingen uns jüdische und christliche Tote mit taufrischen Farben, etwas theatralisch. Der Wagen fuhr unweit von Vaters Grab vorüber. Irgendeiner sang, im Sitz zurückgelehnt, heiser »Lilie, die Lilie«. Es war bereits Morgen.
    DIE GROSSSTADT
    Noch immer bin ich ein Fremder in Budapest: Manchmal gehe ich nachmittags in der Franzstadt oder in den Nebenstraßen des Josephsrings los, die Fremdartigkeit macht mich verlegen, und ihre Ausmaße deprimieren mich, jagen mir mit ihren Firmenschildern zugleich Angst ein; ich trete in der Huszár-Straße in manche Einfahrt hinein, lese die Namen der Mietparteien, und die Betroffenheit schnürt mir das Herz zusammen: Ich lebe in einer Welt, die ich nicht kenne, in einer Stadt, deren wirkliche Stimmung, deren Gedanken, Gefühle ich nicht einmal ahne. Dann gehe ich niedergeschlagen nach Hause und habe tagelang nicht den Mut zu schreiben.
    DIE PALME
    Im Gartenrestaurant macht mich der Kellner darauf aufmerksam, dass die Palme, die in einem Kübel mitten im Lokal steht, seit letzter Nacht blüht. In der Tat welken zwischen den staubigen grünen Blättern einige Träubchen von gelben Blüten vor sich hin.
    »Alle fünfundzwanzig Jahre blüht sie einmal«, wird gesagt.
    Und der Oberkellner:
    »Jetzt verwelkt sie, weil sie hier keinen Partner hat, der sie befruchtet.«
    Und der alte Zigarrenverkäufer:
    »Wir waren mit ihr im Palmenhaus. Man sagt, sie blüht zum vierten oder fünften Mal. Soll an die hundert Jahre alt sein.«
    Verzagt streckt die Palme ihre Blüten der Sonne entgegen, als wäre ihr die eigenartige, nutzlose Gelegenheitspracht, die rätselhafte Unfruchtbarkeit peinlich. Fünfundzwanzig Jahre bereitet sie sich auf diesen Augenblick vor. Das mysteriöse Gesetz, das in dem schlanken Körper wirkt, erfüllt sich genau innerhalb von fünfundzwanzig Jahren. Er lebt auf diesen seltsamen Termin hin, genau und ziellos, in einem Budaer Lokal.
    Andächtig umsteht das gesamte Personal das Gewächs. Man staubt es ab, gibt ihm Wasser wie einem wilden Tier, das – fern der Heimat – in Gefangenschaft geraten ist und im Käfig eine Fehlgeburt hatte. Ich merke, dass wir leiser reden.
    ELEMENTE
    Diese dunstfeuchten Nächte am Ende des Sommers, wenn du durch die Wiese watend in dieser Hexenküche der Natur plötzlich die Elemente des Lebens spürst: den Rauch und den Duft des Heus, den Geschmack des ozongetränkten Ätherstaubes, die Ausdünstungen des gärenden und verrottenden Pflanzen- und Tiergewebes, diesen fürchterlichen und faszinierenden Duft, dessen Summe das Leben ist. Eine großartige Alchimie; zum Funktionieren derselben bedarf es weder des spitzen Hutes, erhitzter Retorten noch lodernder Schmelzöfen. Rieche daran und schmecke sie, schließe die Augen, und du wirst weiser sein als einer, der den Stein der Weisen gefunden hat.
    DAS GESETZ
    Dieser Alte ist auf eine hochmütige Weise alt: wie ein hundertprozentiger Invalide, der eine amtlich bestätigte körperliche Hinfälligkeit hat. Keiner ist für ihn alt genug. Er ist erst zweiundachtzig, aber er hört auch Siebzigjährigen nur mit Geringschätzung, aus irgendeiner unerreichbar fernen Abwesenheit zu. Als hätte er den Marathonlauf des Alterns gewonnen. Alle anderen sind Schwindler, Dilettanten; selbst die Neunzigjährigen.
    Er isst gewaltige Portionen. Denkt in historischen Dimensionen. Unsereiner sagt noch: letzten Mittwoch, Donnerstag. Er: »Dreiundachtzig, und dann später, kürzlich, im Jahr des Millenniums*, da hatten wir das auch.« Ihn ärgert es sichtlich, dass er achtzehnachtundvierzig noch nicht gelebt hat. Sein größtes Erlebnis war eine Abgeordnetenwahl. Von Graf Tisza* spricht er, als lebte der noch, wie von einem politischen Gegner.
    Er rechnet pausenlos und wuchert sogar ein wenig. Frauen taugen seiner Meinung nach nur » zum Abmagern«.
    Er sieht ausgezeichnet, doch sein Gehör lässt nach. »Ich höre nicht, bin taub!«, verkündet er stolz. So, wie man sich als Zwanzigjähriger mit seinen Muskeln brüstet.
    »Damals, in der alten Zeit«, sagt er zum Abschied, blinzelt und schüttelt mir die Hand,

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