Márai, Sándor
Erinnerungen, mit selbstvergessenem Lächeln. Sie hören nicht, wenn man sie zum Mittagstisch ruft. Auf dem Boden liegen Hausschuhe, die kleine David-Figur aus Gips und ein Trambahnticket aus Paris. »Ja, ich komme schon«, rufen sie ins Esszimmer hinüber. Im selben Augenblick werden sie ernst.
Doch schon nach dem ersten Löffel Suppe verfliegt dieser Ernst. Wie schön die Wohnung ist! Natürlich, sie wurde aufgeräumt, während sie weg waren. Wie schön es daheim ist, und in Paris haben sie einen Neger gesehen, er saß da am Boulevard vor einem Café, im weißen Sommeranzug mit Girardihut, und er sah aus wie der Gemischtwarenhändler, der damals, also vor dreißig Jahren, in Kalocsa einen Laden hatte. Noch vor September werden sie die Wohnung ausmalen lassen, sagen sie, und auch die Öfen müssen umgestellt werden. Aber in Venedig, im Dogenpalast, haben sie keine Bäder gehabt; man sollte es nicht glauben … Endlich ein richtiges Essen, sagen sie mit vollem Mund und glänzenden Augen; auf der ganzen Reise gab es keinen Bissen Roggenbrot! Aber dann fällt ihnen der Augenblick ein, als sie in Hampstead von einem kleinen Hügel des Hochplateaus auf London hinuntersahen und auf einmal verstummten, weil es gerade Abend wurde und sich London so riesig darbot und so ländlich wirkte, und sie haben es überhaupt nicht mehr verstanden. Dann strecken sie sich auf dem Sofa aus, atmen den unveränderten Geruch des vertrauten Zimmers ein, wollen noch etwas sagen, Alice soll die Toilettensachen auspacken, das Kölnischwasser könnte ausgeflossen sein. Das Bett in Florenz war miserabel, sie wollen noch etwas sagen. Aber da waren sie schon eingeschlafen.
Sie schlafen, träumen, und im Traum mischt sich auf wundersame Weise die Welt mit dem Duft von ihrem Zuhause. Inzwischen setzt leise der Regen ein. Als sie gegen halb fünf aufwachen, stehen bereits triefend nasse, zerzauste Bäume mit gelblichen Blättern vor dem Fenster, und über den Dächern zieht Nebel hin. Jetzt sehen sie sich die Post an und wundern sich, was alles sie noch mit der Welt verband! Die Zimmer haben sich, während sie draußen in der Welt waren, ziemlich abgekühlt. Der Tag des heiligen Stephan kommt ihnen in den Sinn. Ihnen fällt ein, dass es nach Stephan in ihrer Gegend immer regnet. Ihnen fällt ein, in zwei Wochen ist Schuleinschreibung, und dann beginnt diese sonderbare, zähe, rastlose, gewohnte und dennoch beunruhigende Spannung, die man häusliches Leben, häusliche Arbeit und häusliche Erholung nennt. In Rom ist es natürlich einfacher, denken sie. Und gehen hinunter ins Kaffeehaus, das jetzt, gegen Ende August, schon ganz herbstlich ist; die Billardspieler sind lauter, die Lampen werden schon um halb sechs angeknipst, und im Vorbeigehen stellen sie fest, dass das Schaufenster des Bestatters voll von ganz neuen, interessanten Todesanzeigen ist. Auf dem Heimweg sehen sie sich diese Anzeigen genauer an.
Dann folgt die Nacht, und ihr Schlaf ist schon ruhiger. Gelegentlich hören sie noch die durchdringende Hupe eines Londoner Droschkenfahrzeugs oder die Stimme des Mädchens, das am Meer plötzlich loslachte. Warum hat es denn gelacht? – fragen sie sich zerstreut und stumm. Durch die ihnen vertrauten Straßen gehen sie schon wieder mit Gleichmut, ergeben und ohne Erwartungen. Für einen Augenblick leuchtet er noch, der August, und in diesem Licht blitzt die Erinnerung auf an die Welt. Wie ist sie nur gleich? Sie umfasst das Meer, freche, fremde Kellner, die Bilder berühmter Maler und etwas, was man nicht vollkommen verstehen kann.
DAS DRAMA
Die großen, fatalen Dramen des Lebens fangen so leise an, dass wir bereits bis zum Hals drinstecken in der dramatischen Situation und noch immer nicht verstehen. Krebs, Schande, das Scheitern, die große Enttäuschung beginnen nicht so wie in der Literatur: Eines Tages bemerken wir einen Pickel, oder jemand spricht am Telefon ganz sonderbar, wir wissen die Worte gar nicht richtig zu deuten, oder die Frau, die wir lieben, dreht auf einmal den Kopf zerstreut weg. So fängt es an. Nein. Da ist es schon passiert. Das Verhängnis ist leise. Nur der Unfall schreit, kreischt und klingelt.
TÖRÖK
Gyula Török* war der erste Schriftsteller, der mich als Freund akzeptiert hat, ja, der erste, den ich persönlich kannte. Achtzehn war ich damals. Er dreißig und »arriviert«: trug einen roten Bart, seine Bücher lagen in den Schaufenstern, und wenn wir nach der Redaktionsarbeit auf die Straße gingen, drehten sich
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