Márai, Sándor
Rechnen. Unser Wein animiert: »Berausche dich, vergesse!« Der deutsche Wein: »Komm zu dir, erinn’re dich!«
DER WIND
Der Wind, dieser Wahnsinnige! Ewig heult er. Und ewig das Gleiche. Ein Weltbad hat sich darauf gegründet, mit Palästen, zimperlichen Zeitgenossen, die gerade dieses wollen. Alles überschreit er, nur er, nur er! Als würde unentwegt etwas passieren, in der Tiefe, jenseits des Lebens, davon berichtet er, verzweifelt, ungestüm, röchelnd; er ist der Einzige, der das Geheimnis kennt!
Aber die Berge schweigen.
SÄNGERIN
Gastspiel einer englischen Sängerin. Leeres Haus; die Besucher frösteln. Eine rothaarige, traurige Frauengestalt, sie ist alt, windet sich in der schrecklichen Umarmung der Kunst, man hört, wie in dieser Umklammerung ihre dünnen, schon etwas verkalkten, rachitischen Knochen ächzen.
Schottische und irische Lieder trägt sie vor. Der schottische und irische Kummer, die Fröhlichkeit, die Anspielungen, Verzweiflung und Ausgelassenheit sind in ihrem Vortrag latent vorhanden, aber unverständlich; man müsste nicht nur die Texte, sollte auch ihr Mienenspiel ins Deutsche oder Ungarische übersetzen.
Zähneklappernd quält sie sich in dem kalten, leeren Saal. Es gibt nichts Traurigeres als eine fremde Frau, eingeschlossen in welkende Weiblichkeit und in die Tragik ihrer falschen, kraftlosen Kunst. Das Publikum spürt etwas von diesem Verhängnis, von der Verzweiflung, es klatscht. In China beklatscht man auf diese Weise verstümmelte Bettler.
Schließlich applaudieren wir ihr alle, so fieberhaft wie einem Sterbenden, dem in der Fremde, fern der heimatlichen Erde und getrennt von seinen Lieben, ein Unglück widerfahren ist und dem die Umstehenden Mut machen: »Macht nichts, Sie können sich auf uns verlassen, wir werden Ihre sterbliche Hülle nach Hause schaffen.«
RIMBAUD
Im Alter von achtzehn warf er die Lyrik weg wie eine Gelegenheitsliebschaft, deren Reize er satt hatte. Dann ging er daran zu leben. Zwanzig Jahre hat er es noch geschafft. Dann amputierte man ihm in einem Hospital von Marseille beide Beine, und er starb.
Diese Dichtung, dieses Leben meldet sich mit besonders heiserer Stimme zu Wort, so als würgte ein Gefühl die Wörter ab, als würde alles, was die Seele herausschreien möchte, im Röcheln der Leidenschaft, in einem heiseren Stammeln ertrinken. Was war diese Leidenschaft? Das Geld? Die Macht? Das Abenteuer? Die seltsamen, krankhaften Liebschaften? Die fremden Landschaften, Kaiser Meneliks* Freundschaft, der Waffenschmuggel, der Goldstaub, den er im Gürtel versteckt über die Grenze stahl, die afrikanischen Nächte unter Tieren und Menschen am Ende der Welt, fern der Literatencafés von Paris und vom belgischen Kerker, in dem der kranke Freund Verlaine schmachtete? Was hat er gesucht? Was wollte er mit dem Leben zum Ausdruck bringen, was war es, das sich auch mit der Literatur nicht artikulieren ließ, auf das auch der geheimnisvolle, farbige Klang der Vokale keine Antwort gab, was war diese sensation , über die er sein erstes klassisches Gedicht geschrieben hat und die er dann verfolgte, in Gedichten und in den Frauen, mithilfe von Räuberhauptmännern, auf Kamelrücken und im Kokainrausch? Als er im Hospital von Marseille starb, als er gebrochenen Blicks zur Decke emporsah. Verstand er da endlich, was das Wunderbare und Unerträgliche, das nicht zu Ertragende und Unerreichbare war? Da hat er es vielleicht verstanden.
ZIGEUNER
Ist es wirklich so übel, am Rande der Landstraße zu leben, in armseligen Katen, im Inzest und vom Ziegelschlagen, außerhalb jeder gesellschaftlichen Verpflichtung und verkrochen in der zwielichtigen, dumpfen Lehmhütte einer kleinen Rassengemeinschaft – ein bisschen auch geigefiedelnd, hühnerklauend, ein wenig aufgeknüpft, zwischen Gendarmen und Seuchenärzten, in Rauch und Lehm und sich dabei an Indien erinnernd, an den Traum, den unheilvollen Sonnenschein, auch den stibitzten Pengő als »Rupie« bezeichnend? Ist es tatsächlich ein so übles Schicksal, abseits der Welt zu stehen, im Verborgenen zu leben, in einer Gemeinschaft, die etwas schmierig und schmutzig ist, aber dennoch hautnah und warm wie das Blut? Vielleicht ist dieses Zigeunerschicksal gar nicht so schlimm. Ich kann nicht voll Überheblichkeit auf die kümmerlichen Hütten schauen, wenn der Wagen auf der gepflasterten Landstraße der Ordnung an ihnen vorüberfährt.
DER KOCH
Greti, das Stubenmädchen des Hotels, heiratet. Sie ist achtzehn, dick und
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