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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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brandaktuellen Fragen seiner Zeit behandeln wollte, und ebenso, wenn er zu seiner unmittelbaren Umgebung, zu seiner Klasse oder seiner Nation über die Streitfrage des Augenblicks sprach. Das »Auf, Magyaren!« ist als Gelegenheitsdichtung entstanden und sollte am 15. März 1848 seine Wirkung tun, aber es lebt und ist bis zum heutigen Tag wirksam und auch noch in tausend Jahren, solange ein Ungar lebt. In den großen Werken fehlt jegliches Verfallsdatum. Der gute historische Roman stellt uns eine Epoche und die Menschen dieser Zeit mit großer Genauigkeit vor, aber so zeitlos, als hätte sich das alles auf dem Mond abgespielt.
    ZWEIFEL
    Möglich, dass sie noch gar nicht fertig war? … – nur hat es Gott angeekelt, und er ließ es am siebten Tage bleiben.
    DER CHARAKTER DES L.
    (Kupferstich)
    L. wohnt im Hotel und ist ein unabhängiger Mensch. Er ist es nicht wegen des Besitzes oder Geldes. Seine Unabhängigkeit beruht darauf, dass er keine wirkliche, innige Beziehung zu Geld und Gut pflegt. Er hat einen Chef, der ihn quält, hat Schulden und Schneiderrechnungen. Er verdient viel Geld. Übernimmt jede Drecksarbeit, um das Nötige fürs Kaffeehaus, für mäßiges Kartenspiel und für das Auto zu haben. Diese Summe verdient er sich mit zusammengebissenen Zähnen, schnaufend, schwitzend und fluchend.
    Verheiratet war er nie. Er hat keine wirklichen Freunde, hat für jeden ein breites Lächeln, breitet die Arme aus, freundet sich jederzeit mit aller Welt an. Sein Lächeln erinnert an das eines stattlichen Zigeunerprimas. Die Menschheit – selbst den Gerichtspräsidenten – spricht er mit »mein Bester« an. Er verrät niemanden, ganz einfach deshalb, weil es für ihn gar keine menschliche Verbindung gibt, die zu verraten sich lohnen würde. Er lebt in der Welt, deren ganze äußere Schönheit er genießt, wie ein Delfin im Aquarium; die Verantwortung für seine Existenz liegt nicht mehr bei ihm, sondern bei den Menschen. Er lebt in seinem Element, aber ohne jegliche Bindung und Solidarität.
    L. quillt über von Geschichten; aber so, als würde er das, was er wirklich zu sagen hat, verschweigen. Er ist gesprächig und verschlossen. Ungebunden, aber dennoch keineswegs frei. Es gibt kein Versprechen, an das er sich gebunden fühlte, keinen Schwur, keine Papiere, nirgends, bei niemandem, auf die man sich berufen könnte. Er ist nicht traurig; eher von Berufs wegen gut gelaunt. Er erscheint stets mit großen Gesten unter den Menschen, mit schmierigem Lächeln, mit genügsamer und demonstrativer Bescheidenheit. Er ist der einzige Mensch, von dem ich sicher weiß, dass er weder mit den Lebenden noch mit den Toten etwas zu schaffen hat.
    DURCHZECHTE NACHT
    Plötzlich, um halb vier, ohne Übergang, in einem Garten am Adlersberg, dieser Augenblick, wenn gerade »der Morgen anbricht«.
    Zuvor sang eine Drossel oben auf dem Rauchfang; der Himmel war dunkelblau, nicht blau und nicht schwarz, so dunkelblau wie das Meer vor dem Sturm. Als die Drossel den letzten Ton hinausgeschmettert hatte, da wurde, wie auf ein Signal, der dunkelblaue Himmel hell. Als hätte man irgendwo, tief unter der Erde oder jenseits der Erde, Lampen angeknipst, riesige, starke Scheinwerfer, deren Lichtgarben man noch nicht sehen kann, nur die Spiegelung des geheimnisvollen Lichts dämmert herauf. Die Singdrossel verstummt, als hätte sie ihre Pflicht erfüllt, und sie flieht vor den Folgen, fliegt verschreckt davon. Die Bäume, die Gesichter, das Gartenhaus, alles wurde in diesem Augenblick Wirklichkeit. Wir sahen uns an, dann zum Himmel hoch, sodann auf den Boden, demütig.
    Die Bäume füllten sich plötzlich mit Früchten. Hunde schlichen hervor, in der Ferne hupte ein Kraftwagen, jemandem ist das Wort eingefallen, nach dem er die ganze Nacht hindurch gesucht hatte: »letal«. Er wollte etwas über das Herz sagen. Die Frauen setzten sich die breitkrempigen Strohhüte auf, strichen mit blassen Händen Rouge auf ihre Wangen. Die Landschaft, die sanften Hügel, der Wald, die Obstgärten, alles ist mit solcher Kraft ans Licht getreten, mit einer derart künstlichen Fertigkeit, als hätte sich ein Räderwerk in Gang gesetzt, das mit Licht und Motor die Welt auf Touren bringt. Die Luft erwärmte sich mit einem Mal gespenstisch; es war eine so farb- und geschmacklose Morgenhitze, wie man sie sich auch als Atmosphäre des Purgatoriums vorstellen könnte: nicht irdisch, nicht vertraut, nicht menschlich. Auf dem Tisch standen halb geleerte Gläser mit edlem,

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