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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Amtsgerichts ein scheunenartiges Nebengebäude, eine Art noblere Hundehütte. Mit dem Schild »Landesgefängnis« über dem Eingang. Am Fenster des Gerichtsgebäudes reifen in Weckgläsern Gurken und Tomaten heran. In diesem Haus werden kaum allzu strenge Urteile gesprochen.
    Momentan bewacht ein Dienstmädchen die Arrestanten. Die Wärter sind beim Mittagessen. Das Mädchen lehnt sich lachend aus dem Fenster.
    »Sitzen derzeit Sträflinge bei euch ein?«
    »Zwei«, erwidert sie stolz. »Zwei Herren.«
    »Werden sie anständig behandelt?«
    »Bestens.«
    »Was gab’s zu Mittag?«
    »Nudeln.«
    All das erinnert von außen zwangsläufig an die Fledermaus . Aber für den, der einsitzt, ist es ganz egal, ob das Sing Sing oder diese Hundehütte sein Kerker ist. Der Mensch leidet manchmal unter lächerlichen Bedingungen. Doch er leidet genauso.
    DIE BERGE
    Die Berge sind störrisch, beschränkt. Sie sagen unentwegt dasselbe, mit fürchterlichem Nachdruck, wie ein dummer Mensch seine Ansichten.
    Nebel. Dessous der Berge.
    Ja, die Berge sind riesig. Aber ich, der Mensch, der ich ihnen gegenüberstehe, der ich allein im Weltall ihre Abmessungen kenne: Ich bin der andere Riese.
    FRAGE
    »Kurzum, Sie sind Freudianer?«
    »Nein. In Kürze: Ich bin Anhänger der Liebe.«
    VIRGINIA WOOLF
    Diese Frau ist in der Weltliteratur die Einzige, der das Unmögliche gelang: Sie fixierte die Zeit. Was Proust nicht geschafft und Joyce vergeblich versucht hat. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Ulysses sind großartige Meisterwerke, aber krankhafte, verzerrte Meisterwerke, ein unendliches Sprießen, beide. Doch Virginia Woolf hat ein Buch geschrieben, in dem sie die Zeit zusammenfasst, ihre Ausmaße zähmt: »Alles« ist darin enthalten, und die Proportionen stimmen. Mehr kann ein Autor gar nicht erreichen.
    Mrs. Dalloway kam nach Hause: Die Köchin pfeift in der Küche. »Clarissa hat jetzt das Klappern der Schreibmaschine gehört. Das war ihr Leben. Und plötzlich, in der Hall über den Tisch gebeugt, fühlte sie sich zugleich gesegnet und rein.« Solche Sätze schreibt sie. Ein bescheidenes Buch: die Geschichte eines einzigen Tages im Leben einer englischen Lady. Es umfasst das Leben, die Zeit, London und noch etwas.
    NACHMITTAGS UM VIER
    Es ist vier Uhr nachmittags. Ich schlendere an der Donau entlang, am Ladekai, und beobachte das großartige Zusammenspiel von Wasser, Schiffen und Wolken, wie sie sich gegenseitig ergänzen, sich eines im anderen spiegeln, spielerisch und unendlich ernst zusammengehören und zwischen den Häuserzeilen von Budapest gemeinsam irgendeine ferne und ewige Verwandtschaft bilden, mit allen Wassern, allen ankernden Schiffen und allen Wolken über den Wassern und Schiffen. Ich bin doch nicht ganz allein, geht es mir durch den Kopf: Gelegentlich sendet die Welt eine Botschaft.

SEPTEMBER
    Er beginnt mit dem Altweibersommer, mit mostduftendem Gären, mit Dahlien, Theaterpremieren und mit dem Japanisch-Chinesischen Krieg; seit geraumer Zeit pflegen die Jahreszeiten mit Kriegen anzufangen. Wir schauen zum Himmel auf, zum dicht bezogenen, sirupfarbenen Himmel, lauschen dem Summen berauschter Wespen, den fernen Bombenexplosionen. Diese Bomben detonieren weit weg von hier, in Spanien und China. Die Natur bewegt sich in Richtung Vergänglichkeit; aber auch der Mensch ist nicht untätig.
    Der September beginnt mit Bomben, mit Altweibersommer in der Luft, und am Ende, Ende September, schließt er natürlich mit einem Gedicht*, das alles umfasst, was über diesen Augenblick zu sagen ist. Wie ein losgelöster Planet, der nichts mehr mit dem Sonnensystem zu tun hat, aus dem er kommt, schwebt das Gedicht durch die Weltliteratur. Sein Inhalt ist karg. Alles in allem besagt es lediglich: »Noch blühen die Blumen des Gartens im Grunde«, und der vierundzwanzig Jahre junge Dichter ahnt das Alter, die Vergänglichkeit, die Unbeständigkeit der Liebe. Darüber hinaus ist darin auch das Universum enthalten und alles, was der Mensch im Hinblick auf Leben und Tod empfindet.
    Dieses Gedicht vor mich hinsprechend, gehe ich mit meinem Hund wie ein russischer Dichter in diesem nach Most und schwach nach Senfgas duftenden Herbst spazieren. In den Kelterhäusern werden die Fässer, in den Fabriken die Bomben gefüllt, irgendwo fern und ringsum in der herbstlich werdenden Welt. Das Gedicht setzt Ende September mit solcher Vehemenz ein, als hätte irgendeine unsichtbare Kapelle zu spielen begonnen. Es gehört zu mir wie die Erinnerung

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