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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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an ein persönliches Erlebnis. Ich liebe jedes seiner Worte: auch dass der Dichter Blumen des Gartens statt Blumen des Herbstes und statt Flamme das altertümliche Lohe geschrieben hat. Die Melodie, dieser andere, vom Sinn der Wörter fast losgelöste Inhalt ist so mysteriös darin verankert, als wäre er in Notenschrift geschrieben. Ende September beginnt das Gedicht, über eine Entfernung von hundert Jahren, plötzlich zu klingen und wühlt in Zeit und Vergänglichkeit die Erinnerung an eine Liebe und eine Art edel kokette, erschreckend ehrliche und frivole Todesangst auf. Mit diesem Gedicht im Herzen, den Spazierstock über dem Arm, gehe ich mit meinem Hund hinaus in den Herbst. Der Nachmittag ist noch warm. Mit Traubenzucker nährt die Natur ihren schwächer werdenden Pulsschlag. Der Teich des Springbrunnens blinzelt wie die klebrigen Augen eines alten Mannes, schlau und träge.
    Der Herbst beginnt im Hüvösvölgy*, ein Stück hinter dem Zollhaus, umgeht die Nagykovácsi-Wiese, vorbei an der Schenke Zur Schönen Schäferin ; so nähert er sich der Stadt. Wenn er die Italienische Allee erreicht hat, ist er bereits ganz städtisch, gleichsam in der Lodenpelerine. Nachmittags zwischen vier und fünf, wenn im Veronika noch die Zigeuner aufspielen und in der Konditorei vom Hüvösvölgy die armen, pensionierten, kranken und schlecht gelaunten Millionäre Sacharin in ihren Kaffee rühren, fängt er an. Irgendwo spielt die Musik, ganz alte, schwärmerische Operettenausschnitte, beispielsweise die Ouvertüre von Undine . Die Haarlocken der steinernen Engel an den Wegen zwischen den Gärten schmücken blutrote Blätter des Wilden Weins. All das ist ein wenig süßlich, bunt und überladen, ungefähr so wie das Finale einer italienischen Oper. Ich gehe am Veronika vorüber und weiß sicher, dass das Leben für mich noch etwas bereithält, etwas, das zugleich Arznei und süße Schleckerei, Taumel und Traubenzucker sein wird. Ich bleibe stehen, sehe mich um und verharre.

TAGE
    Jetzt ist es schon ganz sicher, dass der Dienstag »gut« und der Freitag – genau wie Abergläubige meinen – »schlecht« ist; dann gibt es neutrale Tage, Montag und Mittwoch, sowie den ominösen Samstag und den schrecklichen Sonntag … Langsam baut sich so in uns ein Kalender auf, der nichts mit den Regeln des gregorianischen zu tun hat und von weitaus größerer Gültigkeit ist als das offizielle Kalendarium. Ein Mensch stirbt nicht am zwanzigsten April, sondern an einem Tag, der nur ihm allein gehört, und er ist auch nicht mittwochs glücklich, sondern in einem der Zeit entrissenen Augenblick, der noch nie war und nie mehr sein wird, er hat keine Rangfolge und keinen Namen. Man müsste ein wenig so leben wie in der Steinzeit: ohne Kalender, nur in der Zeit, zwischen Leben und Tod.
    GEFÄNGNIS
    Jedermann, der irgendwo ankommt im Leben, der es zu etwas gebracht hat, merkt eines Tages, dass sein Leben zum Gefängnis geworden ist. Was für ein feines Gefängnis! Angefüllt mit gediegenen Möbeln, edlem und langweiligem Amüsement, die Häftlinge verkehren miteinander in leiser Zeichensprache, es gibt Feiertage und eine strenge Tagesordnung … Wann hat man dir Hände, Füße, deine Seele und das Herz gefesselt? Du erinnerst dich nicht mehr. Wie lange dauert diese Gefangenschaft? Natürlich lebenslang. Unsichtbare Augen verfolgen jeden seiner Schritte, alle seine Bewegungen. Gelegentlich bricht er aus dem Gefängnis aus; doch dann trottet er ergeben wieder zurück, denn er hat die Gefangenschaft schon in sich, in seinem Herzen und in den Nerven. Und eines Nachts erwacht er und merkt, dass er vom Tod bereits so vertraut träumt wie der Arrestant von der Feile und der Strickleiter.
    DAS KUPFER
    Dieser Kerl fällt immer wieder über mich her und klagt. Er hat ein Problem mit der Welt, die, wie er meint, nachlässig, korrupt und nicht willens ist, sich zu entwickeln. Ich allerdings bin der Meinung, er sei es, der nachlässig, korrupt und nicht gewillt ist, sich zu entwickeln; doch das kann ich ihm nicht sagen.
    Als wir uns verabschieden, prüfe ich seine Schuldzuweisungen und spreche die Welt frei. Sie entwickelt sich nämlich gar nicht so langsam. Wenn ich mir überlege, dass der Mensch etwa drei- bis vierhunderttausend Jahre benötigte, um zu merken, dass man den Stein auch behauen kann und dann noch einmal hundert- bis zweihunderttausend Jahre, bis er das Kupfer entdeckte, sowie ein paar weitere Jahrzehnte, bis ein Genie herausgefunden hat, dass

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