Márai, Sándor
so unabhängig von unseren Intentionen ist! Für diesen Augenblick meiner Jugend war der Oktober ein einziger Sonnenuntergang, angefüllt mit deutscher Literatur, allgemeiner Freiheitssehnsucht, unbewusster Dandyhaftigkeit, die Zeit, in der ich mich ruhig und natürlich bewegte wie ein Schauspieler auf der Bühne in einer wichtigen Rolle seines Lebens.
Das Hotel war so vornehm und ehrwürdig, auch der dazugehörige Oktober, als hätte die Direktion alles in Bewegung gesetzt, um ihren Gästen eine Jahreszeit mit Qualität zu bieten. Ganz wie es sich gehört, zogen manchmal Nebelschwaden auf. Der Golfrasen war blassgelb, doch Golfer waren nicht da, denn die Deutschen und wir anderen mitteleuropäischen Gäste beherrschen das Golfen nicht. Nach dem Mittagessen lagen wir in Liegestühlen in sportlichzünftigen Strickleibchen vor dem Hoteleingang, hielten die Gesichter der Sonne entgegen, die so zart war in diesen Wochen wie die Gefühle, mit denen ein alternder Mann an einstige Rivalen und Liebschaften denkt. Niemand verlangte es nach etwas. Der Wald verströmte den Duft eines alten, aus edlem Holz geschnitzten Kleiderschranks. Von Zeit zu Zeit trat ein Reh oder eine alternde Filmdiva auf die Lichtung heraus. Dieser Oktober hatte etwas, das außerhalb des Jahrhunderts lag. Nie habe ich so exquisit gelebt: Wir schwebten im Fluidum der Strahlenbrechung des Oktobers und sprachen fast in Jamben zum Personal. Die Welt war elegant und duftig. Doch einige Tage später fiel der erste Schnee, und die Spartakus-Revolution brach aus. Da fuhren wir alle heim, Rehe, Generaldirektoren, feinfühlige Dichter: Das Fest war aus, eine neue Jahreszeit hob an, in Berlin angekommen, sah ich durchs Wagenfenster einen Mann, er lag im Straßenstaub, aus seinem Hals sickerte Blut.
An diesen Oktober erinnere ich mich jetzt. Nie wieder habe ich einen so exklusiven Oktober erlebt. Als wäre dieser noble Monat vulgarisiert worden. Ich ziehe mir sein weiches Tuch wie einen Konfektionsanzug für die Übergangszeit an, betrachte die Bildergalerie der Landschaft, wandle ungerührt zwischen ihren bunten und abgegriffenen Kulissen. Langsam schleift sich jede Lüge vom Menschen ab, auch der Weltschmerz. Bleiben der Schmerz und die Welt.
FREIHEIT
Am Nachmittag kam ich aus dem Wald zum Badeplatz und setzte mich in den Bus. Da saßen wir im lauen und duftenden Herbst, warteten auf die Abfahrt, sonnten uns in der späten Wärme wie die Eidechsen auf den Steinen. Ein beleibter junger Mann, der in nichts den hartgesottenen Literatur-Detektiven glich, sagte:
»Den Einbrecher, der die Decken gestohlen hat, haben wir. Hier im Wald ist er uns ins Netz gegangen. Ein berüchtigter Schieber. Er türmt immer wieder: Einmal hat er bei uns im Knast die Kupferringe vom Ofenrohr verschluckt. Er wollte ins Spital eingeliefert werden, damit man ihm den Bauch aufschnitte und er danach entwischen könnte. So sehr war ihm nach Freiheit.«
Dieses Wort »Freiheit« erklingt im Autobus, im Herbst, im warmen und stillen Wald. Eine Weile klingt es noch nach; dann ist nichts mehr zu hören. Keiner antwortet. Wir blicken zum Wald hin, wo es schon dämmert. Dann setzt sich der Wagen in Bewegung, hinunter ins Tal.
DIE KÖCHE
Ein paar Minuten vor Mitternacht erschienen auf dem dunklen Kinderspielplatz der erste Koch des Hotels mit weißer Mütze, Chef genannt, der eine Hilfskoch und der Patissier; sie stiegen auf die Schaukel und begannen routiniert und mit Schwung zu schaukeln. Sie redeten kein Wort. Der Mond kam hervor. Die Gäste schliefen schon oder tanzten in der schummrig beleuchteten Bar.
Ich saß auf einer Bank in der Nähe und rauchte. Dachte darüber nach, dass die Welt voller Rätsel ist und dass man ewig leben müsste, um etwas von der Wirklichkeit zu erfahren. Die Vögel ziehen im Herbst fort. Die Kinder kommen im September in die Schule. Der Jupiter hat vier Monde.
Die Köche schaukeln in der Nacht.
VORWINTER
Wenn ich reich wäre, würde ich eine neue Jahreszeit schaffen. Ich finde das Althergebrachte ziemlich reizlos. Zwischen den vier Jahrezeiten lauern Varianten. Auch die Natur entwickelt sich weiter. Vor dem Frühling gibt es manchmal kleine Herbstphasen, herbe, nach Most duftende Tage mit Altweibersommer und gelben Blättern, die aus dem Unbekannten kommen und rascheln, wenn die Kastanien noch nicht einmal wagen, Knospen anzusetzen. Es macht sich jemand einen Spaß mit uns, spielt mit unserer Ordnung, den Vorschriften und Übereinkommen. Manchmal weht im
Weitere Kostenlose Bücher