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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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November ein milder Zephir, und die Zeisige melden sich. Der Winter kennt rosenduftende, schwüle Tage mit heißem Wind und nervösem Kopfschmerz. Es gibt Nachwinter und Vorwinter.
    Der Vorwinter ist kokett wie ein Backfisch. Fröstelt noch nicht, trägt aber schon kleine Muffs. Er streicht sich die Wangen mit dem Wiener Lappen rot, dass er aussieht, als hätte ihn der Nordwind gestreichelt. Und er lässt schon heizen, allerdings mehr aus Langeweile. Steckt noch in den Flegeljahren und weiß nicht viel. Als wäre der Winter nur Eislaufen, Schlachtfest und Ballnacht mit durchgeschwitzten Kragen. Weiß noch nichts von Grausamkeiten, wie ich vom Leben nichts wusste, als ich zwanzig war und gelegentlich erstaunt feststellen musste, dass um mich herum da und dort die Menschen sterben.
    DER TOD
    Es tut weh zu sehen, wie sehr er sich vor dem Tod fürchtet! Er jammert, summt ihm was vor, kriecht auf dem Bauch vor ihm, preist mit gezwungenem Grinsen seine Tugenden an, wie eine verblühende Frau, die sich mit peinlich verlegener Geziertheit dem unwilligen Freier andient und ihre welkenden Reize entblößt. Er ist in den Tod verliebt, kann an nichts anderes denken, katzbuckelt vor ihm, brabbelt fiebrige Ehrenbezeigungen, geißelt sich, lebt tugendsam, isst und trinkt nicht, kasteit seinen Körper mit Diäten, betet. Fürchtet er ihn so sehr? Sehnt sich gar nach ihm? Ich glaube, er bestürmt ihn nicht ganz chancenlos; der Tod wird ihn schließlich bedauern und sich mit ihm einlassen.
    DER SCHEIN
    Die alte Schule, die volltönend und mit Häme verkündet, wie sehr der Schein trügt: führt es in Romanen und Theaterstücken vor, dass die Mitglieder der ehrbaren Familie heimlich scharf gewetzte Messer bei sich tragen und einander am liebsten mit Gift füttern würden. Nach dieser Theorie weckt jeder Verdacht; der väterliche, Pflanzen sammelnde, gütige pensionierte General ist in Wahrheit ein wüster Sadist, die weißhaarige, vornehme Oma hat einen jungen Liebhaber, das sanftmütige Mädchen ist irgendwann mit einem Vortänzer nach Paris durchgebrannt, das Familienoberhaupt, ein Gehrock tragender Ritter der Ehrbarkeit, saß schon einmal acht Monate in Vác* ein, und die treue Amme hat nicht nur Geld gestohlen, sondern ist nachmittags zwischen vier und sechs eine ganz gewöhnliche Kupplerin. Diese Lehre hat sich lange gehalten in der Literatur. Auf der Bühne wie in Romanen trieben sich lauter in ehrenwerte Honorigkeit und strengen Puritanismus gekleidete Bestien herum, die im gegebenen Augenblick ihre Maske fallen ließen und sich mit ruchloser Infamie auf alles stürzten, was sie tagsüber zu schätzen und zu lieben vorgaben. Es war eine berühmte Schule. Aus dem Kleiderschrank krochen als Domherren verkleidete Bauchaufschlitzer hervor, und auf die schüchterne Braut wartete bereits Minuten nach der Trauung um die Ecke im Taxi der Kokainschmuggler.
    Diese Schule, Kunstauffassung und literarische Sicht, diese krampfhafte Scheinweisheit, die die Leser oder Zuschauer mit dem zweifelhaften Vorleben der in Ehrsamkeit ergrauten Matronen erpresste, die zu wissen vorgab, dass die Welt eigentlich ganz anders ist, als sie ist, diese augenzwinkernd informierte Literatur hat endgültig ausgedient. Der Schein trügt, ja, der Schein trügt insofern, als es in der Tat ehrsame Matronen gibt, die tatsächlich den ganzen Tag aufopferungsvoll für ihre Familie arbeiten und keinen einzigen jungen Spanier aushalten, dass sich Gehrock tragende Herren finden lassen, die nie in Vác im Gefängnis saßen, dass es errötende Bräute gibt, die tatsächlich in ihren Bräutigam verliebt sind, und dass ganz allgemein Menschen existieren – und diese auch noch in der Überzahl –, die gut gelaunt ehrsam sind, an das gegebene heilige Wort glauben, die nicht, um zu täuschen, gutmütig sind, sondern aus Neigung und deren Gewand keine Maskerade der Gemeinheit ist und in niederträchtiger Absicht getragen wird, sondern einfach Kleidung, die man am Morgen ausbürstet und am Abend auf den Bügel hängt. Seien wir vorsichtig, Autoren und Leser, der Schein trügt. Die Menschen sind sonderbar: Manchmal sagen sie genau das, was sie denken, und sind aus innerer Ohnmacht genau so, wie sie sich geben. Und wenn wir einmal darauf achten, werden wir feststellen, dass ein anständiger Mensch – auch um literarisches Aufsehen zu erregen – mindestens so interessant und verblüffend sein kann wie ein verkleideter Gauner.
    EINE FRAU
    Wenn ich ein Tagebuch führte, würde ich

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