Márai, Sándor
letzten Mal. In dieser ihrer Rolle war sie wirklich unsterblich.
DIE NORDLÄNDER
Niemand kann ungestraft ein Jahrtausend lang Wikinger sein. Diese netten, traurigen Nordländer sind noch immer unterwegs – auch dann, wenn sie nur in Stockholm in die Straßenbahn steigen – zwischen den Abenteuern mit den Elementen, der Zeit und mit den Erdteilen, kämpferisch, wortkarg und diszipliniert, ihre Lippen sind schrundig vom salzigen Wind, in ihren Herzen lodert die wilde und traurige Leidenschaft der Eroberung, und wenn sie einen Posten gegerbter Felle an irgendeine Adresse im Süden verkaufen, schauen sie der Ware, dem Käufer und dem Namen der fremden Stadt hinterher, als betrachteten sie Möwen am Horizont. Sie sind das Volk des Abenteuers, die echten, edlen, traurigen, die hoffnungslosen Abenteurer. Jenseits aller höherwertigen Zivilisation bewahren sie sich eine Erinnerung, aus der die schmerzliche, unbesiegbare, rohe und noble Leidenschaft des Abenteuers strahlt. Der Mensch des Südens lebt bloß. Der Nordländer sehnt und erinnert sich. Das ist das wahre Abenteuer.
SAMUM
Was ist das für ein Samum*, der mit seinem staubigen und sengenden Zorn die friedlichen Bereiche unseres Lebens überfällt – von welchen Bergen, Wüsten, aus welcher Himmelsrichtung unseres Lebens fällt er ein, was für Meere und Saharas tragen wir in uns, was ist es, das so brennt, heult und vernichtet, welche Kräfte schlummern in uns, was zwingt uns eines Tages, die Palmen der Oase des Idylls auszureißen, die Zelte samt Kamelen und Frauen in die Luft zu schleudern, mit dem Gesicht in den heißen Sand stürzend auf die Vernichtung zu warten, die in uns wohnt und gegen die wir nichts tun können?
SIE REDEN ÜBER FRAUEN
Die Männer setzen sich im Wirtshaus oder im Salon zusammen und reden über die Frauen. Sie fangen diese Gespräche prahlerisch an und beenden sie verlegen. Grundtenor einer jeden solchen Männerunterhaltung ist die tiefe Enttäuschung. Das Glück, das Trugbild, dem sie nachjagten, hatte mit Hans und Grete nichts zu tun. Wir sprechen über die Frauen, über Frauen im Allgemeinen und im Besonderen, als species und als Grete, und wissen schon »alles« über sie, und wir bedauern sie mehr, als wir sie anprangern … doch auf dem Grund der vielen kleinen Geschichten, hinter den zahllosen und komplizierten Redensarten, die mit »… und dann ging ich auf die Straße und plötzlich« beginnen und schließlich mit »weiß der Teufel, mein Lieber, was passiert ist« enden: Die Pointe all der Geschichten ist dieser enttäuschte Schrei, dass immerzu etwas passiert, für das Hans und Grete nichts können, dass etwas nicht geschieht, was für das große Glück von Hans und Grete wichtig wäre. Sie reden über Frauen, meinen aber Gott, dessen Absicht sich hinter all dem verbirgt. Und sie argwöhnen schlecht gelaunt, dass Ziel und Absicht Gottes nicht das Glück war, sondern irgendetwas anderes – was? Gott allein weiß es.
DIE FORSCHER
Immer suchen sie Gott irgendwo weit weg, in den großen Dingen, gewissermaßen mit Fernrohr und Lupe, zwischen den Sternen, den Wolken und der Unendlichkeit. Ich aber weiß schon, dass ich Ihn mit größerer Wahrscheinlichkeit in den ganz kleinen Dingen finde, im Zufälligen, Unwesentlichen, in den Augenblicken, da wir staunend hinaufschauen, etwas begreifen, was wir zuvor, zwischen den Wüsten und Schluchten des Lebens wandelnd, nicht verstanden haben. Der Augenblick, in dem etwas einfach und klar wird, was soeben noch unklar und unverständlich war, der Augenblick, in dem sich Gott über uns beugt. Glaube ich an Ihn? Manchmal meine ich, es grenze an Frivolität und Übereifer, an Ihn zu glauben. Er ist mehr und zu anders, als dass mein Glaube oder mein Leugnen über unser beider Verhältnis entscheiden könnte.
BAUDELAIRE
Ich besitze zwei Porträts von ihm: das eine ein Foto, das Nadar von ihm aufgenommen hat, ich schnitt es mir aus einem psychiatrischen Fachblatt aus; das andere hat er, Baudelaire, von sich gezeichnet. Beide Bilder sind furchterregend, er sieht darauf aus wie ein geisteskranker Familienmörder, wie ein Dandy, ein großer Geistlicher oder Diplomat und erhaben, als wäre dieses Gesicht in der kalten Hölle der Inbrunst, des Schreckens, der Verzweiflung und des Unverstands, des Unglücks, des Verbrennens und der Hingabe geformt worden, ein Gesicht, das nicht mehr menschlich ist. In Fachbüchern präsentiert man es als »das« Gesicht des Dichters. Diese Augen haben die Hölle
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