Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
Vom Netzwerk:
stille Stubenleben, wenn wir am schmierig-grauen Morgen erwachen, wie in den Tagen der Krankheit, die Zeit des künstlichen Lichts und der imitierten Wärme fängt an. Ich freue mich nicht mehr über den Winter; nur die Jugend kann über diese barbarische Festlichkeit jubeln. Zu Schlachtfesten gehe ich nicht, weil mein Magen sie nicht verträgt, Bälle meide ich, weil ich dick und einsam bin, Schlittschuhlaufen kann ich nicht, und beim Skifahren bricht man sich die Schienbeine. Bleiben die Literatur und das verräucherte Kaffeehaus, das schon am Vormittag trist und dunkel ist, dicke warme Kluft und der Bronchialkatarrh. All das sind magere Freuden.
    Das Zimmer ist geheizt, ich stelle mich zum Ofen, lustlos wie ein Delinquent, der seine Strafe im Knast antritt. Fünf Monate lautet das Strafmaß. Vielleicht überstehen wir sie.

BILDER
    Gewisse Wörter setzen in mir unweigerlich laufende Erscheinungen, Bilder in Gang; es genügt bereits, dass ich in einem Zeitungsartikel das Wort »händelsüchtig« lese, schon sehe ich irgendein holländisches Gruppenbild vor mir, mit Stuben im Halbdunkel, fülligen Körpern und amüsanter, roher Dramatik, die ich einmal erlebt habe, und vom Ganzen ist mir eine unheimliche und reizvolle Erinnerung geblieben. Das Wort »Kellertreppe« beschwört in mir das Bild eines herbstlichen Gartens herauf, einen welkenden, nach Äpfeln riechenden Garten, der in all seiner gegenständlichen Beschaffenheit irgendwo in dem vom Altweibersommer durchzogenen gelben Licht schwebt und schwimmt. Bestimmte Wörter wecken eigenartige Erinnerungen, die nichts mit dem eigentlichen Sinn des Wortes zu tun haben. Wörter bedeuten auch noch etwas anderes, als das Wörterbuch lehrt.
    NELLY
    Kleinbürgerliches Weibsbild, im Nerz, der Gatte ein verliehener Hochwohlgeboren, sie trottet mit so besorgt-unverschämter Miene zwischen Tratsch, menschlichen Schicksalen und menschlichen Beziehungen herum, pickt hungrig nach Unrat und Torheiten, die sie über Frauen und Männer in Erfahrung bringen kann, mit plumpem Egoismus und feiger Aufgeregtheit, und sie duldet, dass man sie von Zeit zu Zeit mit Klatsch vollstopft wie eine Mastgans … Oh, ist das die Möglichkeit? Eine Weile rede ich mit ihr; dann gehe ich heim und spüle mir den Mund aus.
    DER OFFENHERZIGE
    Dieser Mensch lebt davon, dass er alles ausspricht; entgegen den Regeln und Übereinkünften, voll Eifer und Stolz sagt er dir ins Gesicht, was du nicht hören möchtest, was du verheimlichst und beleidigt verbirgst. Er hat Erfolg damit. Man hasst und man ermuntert ihn.
    Ich halte von diesem Erfolg gar nichts. Echte Ehrlichkeit dient sich nicht an, ist eher schamhaft und verschwiegen. Es bedarf größerer Beherztheit und festeren Mutes, sich etwas zu verkneifen, was dem andern Schmerz bereiten könnte, als es ihm ins Gesicht zu sagen. Behalte das Geheimnis für dich! – sage ich ihm sanft und degoutiert. »Wenn das aber alles ist, was mir zu Gebote steht«, tönt er grinsend und mit affektierter Grimasse.
    SCHANDE
    Dieser gierige und zornige Drang, der mich in der Jugend quälte, der Drang, die Welt zu erklären, in all ihren Einzelheiten, Geheimnissen, ihrem verborgenen Sinn, dieses quälende Bedürfnis hat sich in Schamgefühl verwandelt. Ich will die Welt nicht mehr erklären. Aus mehreren Gründen. Vor allem deshalb, weil ich sie nicht verstehe.
    SAMSON
    Wie fragil doch alles ist, was das Leben so um uns herum aufbaut: Beruf, Erfolg, Rangordnung, diese sonderbare Stufenleiter, um derentwillen man jedermann besonders hasst oder beneidet. In uns lebt jemand, der all das mit Argwohn und Verachtung betrachtet; dieser Jemand ist mächtig und stark. Irgendwann einmal schüttelt er sich wie der gefesselte Samson, und dann stürzt alles um ihn herum in den Staub.
    Meist aber schüttelt er sich doch nicht. Ist unser schließlich überdrüssig geworden und auch der Stufenleiter, an der wir unser besseres Ich festgemacht haben; er verstummt, wir hören auch seine Verwünschungen nicht mehr. Doch selbst in seinem Schweigen ist er furchteinflößend. Vielleicht wäre es besser, wenn er uns gelegentlich verfluchen würde. Wie? – fragen wir erschrocken. Nicht einmal mehr der Verachtung hält er uns für würdig?
    EIN SCHULDNER
    Diese Frau hat mir gefallen, doch dann ist sie erkrankt und bald gestorben, noch bevor sie mir gehört hat. Jetzt drücke ich mich verlegen um ihr Andenken und um ihr Grab herum. Als hätte einer von uns den anderen reingelegt, als hätte die

Weitere Kostenlose Bücher