Márai, Sándor
Verstorbene sich vor ihrer Pflicht und Schuldigkeit gedrückt. Gelegentlich mischt sich Zorn in meine Traurigkeit: Ich möchte sie verklagen. Dann wieder schäme ich mich zutiefst, es ist, als hätte man bei jemandem ewig Schulden, könnte sie aber nicht begleichen, weil der Gläubiger durchgebrannt ist.
OKAPI
Dieses einsame Tier im Londoner Zoo, das einzige Exemplar in ganz Europa: Es kam aus Belgisch-Kongo, hat keine Verwandten, und man kennt seine Ahnen nicht; eine Mischung aus Zebra, Giraffe und Antilope, diese hochmütige und traurige Distinguiertheit, dieser einsame südländische Prinz unter den Tieren, der so heikel und nicht gewillt ist, in Gefangenschaft aus dem Trog zu fressen, man muss ihm eigens künstlich belaubte Weidengebüsche in den Käfig stellen, denn er frisst nur Blätter – was wollte die Natur uns damit sagen, als sie das Tier mehr aus einem Spleen und aus spielerischer Passion heraus als zweckdienlich schuf, was hat es mit einer solchen Kreation auf sich? Mit einer solchen Schöpfung will Gott uns irgendetwas sagen; das Okapi ist Zeichensprache, so etwas wie in der Bilderschrift ein Symbol. Man müsste es enträtseln. An die Arbeit, Poet, steh ihm bei, Zoologe.
VERWIRRUNG
Diese eigenartige Verwirrung, die Verliebte später, nach Jahren, verspüren, wenn sie sich an die erste Zeit ihrer Liebe erinnern, die Förmlichkeiten des Kennenlernens, die höflichen Redensarten und unpersönliche Konversation, als sie noch wie Fremde miteinander redeten, sich einen Platz anboten, Feuer gaben und sich gegenseitig ansahen, wie ein Mann die Frau betrachtet, von der er etwas haben will. Die Erinnerung ist quälend und unschicklich. Sie weist darauf hin, dass ihr Bund, dieser eigentümliche Blutsvertrag, in Wahrheit doch nur ein zufälliger ist. Bei dieser Entdeckung verstummen sie nachdenklich, verwirrt, mit gesenkten Köpfen.
SICH RÜSTEN
Der Mensch wird niemals »reif« für den Tod; er beginnt nur eines Tages, sich vorzubereiten, mit so selbstverständlichen Gebärden und Blicken wie Reisende, die ihre Koffer noch nicht vom Dachboden heruntergeholt, die noch keine Fahrpläne studiert haben und auch noch nicht wissen, in welcher Herberge sie absteigen werden: Doch mit unwillkürlichen Gesten nehmen sie bereits Abschied von Gewohnheiten und Erinnerungen, und zwar mit einer so wunderlichen Selbstverständlichkeit, als hätten sie mit der Morgenpost einen Brief bekommen, dessen unverständlichen und dennoch zwingenden Inhalt man nicht ignorieren kann. So rüsten sie sich. Noch fehlt ihnen überhaupt nichts. Aber da ist schon etwas in ihrem Blick; und dieser Augenausdruck ist unmissverständlich. Sie haben plötzlich etwas begriffen. Magen, Leber und Herz sind noch gesund. Nur sehen sie keinen Grund mehr zu bleiben.
BILDUNG
Alles, was ich in den Schulen und an der Universität an Wissen erworben habe, lebt irgendwo noch in mir, doch erinnern kann ich mich nur noch an ganz allgemeine Inhalte, an eine diffuse Mischung, in der Jahreszahlen und naturwissenschaftliches Elementarwissen oder sprachliche Fertigkeiten sich zu einem Gesamterlebnis verbinden. Dieses Erlebnis nennt man »Allgemeinbildung«. Eine diffuse Angelegenheit. Was Jahreszahlen angeht, empfiehlt es sich, jedes Mal in den Handbüchern nachzuschlagen. Was den Wahrheitsgehalt betrifft, so haben neue Wahrheiten uns gelehrt, ihn anzuzweifeln. Und die Bildung? Ich muss sie mir, wie ein Raubtier das Fressen, täglich neu erkämpfen und das Ganze an jedem Tag von Neuem beginnen. Gebildet ist in der Tat nur, wer erkannt hat, dass er kaum mehr als nichts weiß, und dann auch noch über die Kraft verfügt, an seiner Unbildung jeden Tag neu zu verzweifeln.
APHRODITE
Feine und frigide Frauen allenthalben. Ihre Weiblichkeit ist gedämpft; feine Frauen, sie kleiden sich alle gleich gut, alle haben Giraudoux und Huxley gelesen, alle waren sie in Paris, Viareggio und im Engadin, haben die JohannesPassion gehört, alle duften sie, riechen nach dem Parfum irgendeines Pariser Couturiers und Kosmetikladens, alle lächeln und konversieren auf die gleiche Weise. Sie haben auch ein Sexualleben, selbstverständlich; genauer gesagt, sie besitzen einen Ehemann und einen Liebhaber. Doch Aphrodite mag sie nicht.
Als wäre in der geheimnisvollen Giftküche der Zivilisation all das von ihnen abgedampft worden, was wirklich schicksalhaft weiblich an einer Frau ist. Während wir mit ihnen sprechen, spüren wir, dass diese Frauen keinen wahren Schmerz und keine
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